Wilhelmine hat zwar früh das Rechnen, aber nie richtig schreiben gelernt.
Wie sollte sie auch. Sie ist nie zur Schule gegangen. Um so größer ist Wilhelmines Stolz auf ihre Söhne, die nicht nur acht Schuljahre, sondern eine ordentliche Lehre hinter sich brachten und tüchtige Männer geworden sind wenigstens zwei von ihnen. Aber der eine von diesen beiden, der Wilhelm, sitzt jetzt im Gefängnis und wartet auf seinen Prozess, dabei hat er gar nichts gemacht. Seine Meinung über die Kommunarden von Paris hat er auf Papier gedruckt, das hat er gelernt, er ist Drucker. Walther hat gesagt, das sei nach den Gesetzen Hochverrat und nach dem gesunden Menschenverstand eine Dummheit. Ein guter Sozialdemokrat muss nicht nur klug sein, sondern listig. Walther, der Wilhelmine seit zehn Jahren ein guter Mann ist und den Jungen im schwierigsten Alter ein geduldiger Vater war, der immer Zeit und Kraft fand, das Nötige für die Familie zu tun, der die Jungen nicht als Ungelernte hat gehen lassen, sondern weiter wie ein armer Mann lebte um ihrer Ausbildung willen, obwohl er Armut nicht mehr nötig hatte, seit er für die Zeitungen schrieb Walther also weigert sich, ihr die Bittschrift an den Kaiser aufzusetzen. Er kann mit der Feder umgehen wie kaum einer. Aber ein Sozialdemokrat bettelt nicht beim Kaiser.
Was soll ich machen? fragt Wilhelmine ihren zweiten Sohn, den Friedrich, der aber nicht da ist. Sie hat ihm den Jungen der Nachbarin geschickt, er solle kommen und seiner Mutter raten. Denn seit gestern steht nichts mehr fest. Muss sie ihm nicht sagen, dass sein leiblicher Vater aufgetaucht ist? Dass seine Brüder gar nicht seine Brüder sind? Aber Friedrich ist anders als Wilhelm, Friedrich ist vorsichtig, er will hochkommen, möchte Vorarbeiter werden. Er hat eine ordentliche Frau und eine eigene Stube mit Küche, er kommt nicht, er wittert Ungelegenheiten.
Wilhelmine seufzt schwer und lässt sich, trotz Verbot, in einen der weißroten Sessel sinken. Sie ist es nicht gewohnt, so angestrengt nachzudenken und schon gar nicht über mehrere schwierige Angelegenheiten gleichzeitig. Dass der Wilhelm eingesperrt sitzt, ist die eine Sache. Die zweite: Am gestrigen Tage kam dieser Amerikaner mit seinen Dollars. Und drittens das ist das Verwirrendste: Bernhard ist wieder aufgetaucht, Wilhelmines ordentlich angetrauter Ehemann. Bernardini nennt er sich jetzt, und es scheint, als habe er den Verstand verloren in all den Jahren, da er sich in der Welt herumtrieb. Bernhard verlangt, dass Wilhelmine ihn wieder aufnimmt. Nach zweiundzwanzig Jahren! Mit einem Revolver hat er ihr vor der Nase herumgefuchtelt, dieser Verrückte.
Was soll Wilhelmine mit einem Verrückten? Sie hat genug Sorgen mit dem armen Napoleon, ihrem dritten Sohn, der nicht ganz richtig ist im Kopfe. Kann denn eine Frau überhaupt mit zwei Männern leben? Natürlich wird sie Walther nicht fortschicken, obwohl sie keineswegs vorm Altar mit ihm getraut ist.
Ach, warum ist Walther jetzt nicht da? Er weiß immer, was zu tun ist. Aber Walther ist nach Leipzig gefahren, wo Bebel und Liebknecht vor Gericht stehen, wegen Hochverrat wie Wilhelm. Sie haben ihre Meinung über die Pariser Kommunarden in eben der Zeitung drucken lassen, für die Walther nun über den Prozess berichten soll. Wilhelmine ahnt, dass daraus neues Unheil für ihre Familie entstehen wird. Ach, ach! Die Zeitung wird nicht zugrunde gehen, wenn einmal, ein einziges Mal, ein anderer fährt! Aber Walther behauptet, das sei Ehrensache, er verdanke Liebknecht alles.
Alles! Und ihr, Wilhelmine, verdankt er wohl nichts? Hat sie ihn etwa fortgeschickt, als er vor zehn Jahren aus Italien kam, zu Fuß über die Alpen und nordwärts bis Berlin?
Nie konnte Wilhelmine nein sagen, wenn jemand Hilfe brauchte. Natürlich hat sie Walther erst einmal ausschlafen lassen, hat seine Sachen gewaschen und geflickt und ihm was gekocht. Und eh sie sich versah, war sie seine Frau. Dabei kam er eigentlich nur, um ihr auszurichten: Bernhard ist am Leben, und Wilhelmine soll so treu auf ihn warten, wie er der Revolution dient.
Und dafür, denkt Wilhelmine kopfschüttelnd, dafür dieser weite Weg durch den kalten deutschen Herbst?
Wahrscheinlich brauchte Walther nur diesen Vorwand, um nach Berlin heimzukehren. Was suchte ein Mann wie er in einem italienischen Kloster? War er denn, als die Kommunistenprozesse begannen Anfang der fünfziger Jahre, aus Deutschland geflohen, um als Bruder Pförtner sein Leben zu beschließen? Er, der schon mit Weitling im Bund der Gerechten gearbeitet hatte und später im Bund der Kommunisten!