Viele Leser haben mich gefragt, ob die Geschichte von Knuppe und Emma, von den Gänsen überm Reiherberg eine wahre Geschichte ist, und ich antworte: Es könnte durchaus eine wahre Geschichte sein, obwohl es den Jungen Knuppe und seine Freunde in der Wirklichkeit so nicht gibt. Alles andere aber, die Jäger und die Gänseforscher mit den Raketennetzen, den Streit um das Geld für den angeblichen Gänseschaden, vor allem aber die wilden Gänse und eine Graugans, die Emma hieß, das hat es wirklich gegeben!
Die vielen wilden Gänse, die zu unserem See kommen, um dort zu nisten oder viele Wochen lang zu rasten, die gibt es noch immer. Die Graugans Emma lebt nicht mehr. Sie wurde drei Jahre alt, ehe sie ein Jäger in Spanien erlegte. Doch sie hätte auch von einem Jäger an unserem See geschossen werden können. Der spanische Jäger hat die Kennnummer auf dem Ring, den Emma am Bein trug, der Vogelwarte Hiddensee mitgeteilt. So erfuhren wir, wo Emma geblieben ist.
Emma hatte einen Bruder. Er wurde Emmerich genannt. Er mag noch am Leben sein. Die »Mutter« der beiden hieß Anna und war ein blondes Huhn mit großen Federfüßen von der Rasse Chochin. Zwar legte sie nicht allzu fleißig Eier, doch sie konnte hingebungsvoll brüten. Wie ein goldenes Federkissen lag Anna vor dem Küchenofen in einem Korb über zwei Grauganseiern. Ich hatte sie auf der Viehkoppel des Reiherberges gefunden und wollte sie nicht den Krähen oder Raben zum Fraß überlassen. Jeden Morgen musste ich Anna aus dem Haus in den Garten tragen, damit sie fressen und trinken und sich entleeren konnte. Doch sie wollte stets schnell wieder zu den großen Eiern zurück, die im Korb lagen. Nach vier Wochen wurde Anna unruhig. Sie stand öfter einmal auf und blickte mit gesenktem Schnabel ins Nest. Die Eier hatten an den stumpfen Polkappen Risse. Dann brach aus ihren Schalen ein Stückchen heraus. Hinter den Löchern bewegten sich breite Schnäbel mit einer hellen Eischwiele an der Spitze. Sie wisperten und piepten, und Anna gluckste aufgeregt. Sie sprach mit ihren Kindern.
Jungen Graugänsen ist das Bild ihrer Eltern nicht angeboren. Das ist seit gut fünfzig Jahren schon bekannt. Sie müssen es sich in den ersten Lebenstagen einprägen. Verschiedene Forscher haben junge Graugänse auf sich oder andere Ersatzeltern geprägt. So wird es möglich, dass die eigentlich sehr scheuen Wildvögel auch dem Menschen folgen und während der Kinder- und Jugendzeit ständig in seiner Nähe bleiben wollen. Ich hatte gelesen, dass diese Prägung sehr stark und nicht teilbar ist, und wie leicht sich nestjunge Graugänse prägen lassen, erfuhr ich durch Zufall im Schilfwald unseres Sees.
Vor zwanzig Jahren nisteten in Naturschutzgebieten vor meinem Haus hundert Grauganspaare. Nirgends sonst gab es so viele Graugansnester dicht beieinander. Damals waren die großen Vögel längst nicht so häufig wie jetzt. Inzwischen brüten sie sogar schon auf den größeren Feldgewässern, und die Zahl der Graugänse ist im ganzen Land gestiegen.
Mit Freunden zählte ich die Gänsenester unseres Schutzgebietes. Wir suchten die Schilfwälder und Uferzonen ab. In einem der Nester waren die Eier gerade schlupfreif, und die jungen Gänse piepten leise aus den Eilöchern. Ich beugte mich über das Gelege und gakerte wie eine alte Gans. Die Jungen antworteten mir mit feinen, pfeifenden Sümmchen. Plötzlich jedoch hörte ich ein lautes Pfeifen und Wispern hinter mir. Ich drehte mich um.- Da kamen sehr rasch hintereinander fünf graugelbe Dunenbälle angeschwommen, fünf flaumige Gössel. Sie waren wohl gerade erst einen Tag alt. Vor Staunen verstummte ich, und sofort stockten die jungen Graugänse. Als ich wieder lockte, sausten sie blitzschnell auf mich zu und drückten sich an die Beine meiner Gummiwathosen. Hinter dem Schilf riefen warnend zwei Graugänse. Das mussten die Eltern sein.
Ich watete zum freien Wasser. Die Gössel folgten mir und schwammen nicht zu ihren Eltern. Ich konnte ihnen nicht entkommen. Schnell wie kleine Boote sausten sie über das Wasser, während ich nur mühsam im morastigen Seegrund voranstapfen konnte. Die jungen Gänse hingen wie lebende Kletten an meinem Hosenbein, und wenn ich nicht mit ihnen sprach, dann klagten sie. Draußen auf dem freien Wasser schwammen die Eltern, und ich wusste zunächst nicht, wie ich ihre Kinder loswerden sollte. Dann watete ich mühsam durch das Wasser zum Ufer, als menschliche Muttergans in Gummihosen, und in einer Kette schwammen hinter mir die Gössel. Auf der Viehkoppel legte ich mich neben die jungen Gänse ins Gras. Sie zupften die frischen Triebe ab und fühlten sich anscheinend sehr wohl dabei, wenn ich nur weiter gakernd mit ihnen redete. Ihre Eltern behielten uns aus sicherer Entfernung im Auge. Als sich die Gössel endlich zur Ruhe ins Gras legten, rannte ich schnell davon, weit über die Viehkoppel, und versteckte mich hinter den Kopfpappeln. Von dort spähte ich mit dem Fernglas zurück.
Die jungen Gänse hatten sich erhoben und reckten ihre noch kurzen Hälse. Gewiss riefen sie wieder klagend, weil sie sich allein gelassen fühlten. Die alten Gänse schwammen langsam näher. Sie riefen laut. Und dann rollten die graugelblichen Dunenbälle zum Ufer, sprangen ins Wasser und paddelten auf ihre Eltern zu. Ich war sehr froh, als die Familie im Schilfwald verschwand.
Die Graugansjungen, die unter der goldgelben Anna schlüpften, sollten nicht auf Menschen geprägt werden. So viel Zeit, vom frühen Morgen bis in die Dämmerung Gänsemutter zu spielen, hatte ich wirklich nicht! Sie konnten also in der Obhut der Glucke aufwachsen, und Anna sorgte sich rührend um die seltsamen Kinder. Sie zog mit ihnen über die Wiese, gluckte und lockte und nahm die Gössel hudernd unter ihre gespreizten Flügel. Die anderen Hühner kümmerten sich nicht um die Fremdlinge. Nur unser großer Hahn blieb gern in ihrer Nähe. Er kratzte und scharrte, und gurrend zeigte er den jungen Graugänsen dicke Regenwürmer und Käfer. Doch die Gänse fraßen lieber Gras und wuchsen dabei genauso rasch wie ihre wild lebenden Verwandten am Reiherberg. Dort hatte ich schon Vorjahren ein Versteck aus Schilfhocken aufgebaut, um Graugansfamilien zu beobachten.