Am nächsten Morgen hat die Mutter den Günter Hasse und die Ursel Rackwitz erreicht. Die Ursel lässt, wie verabredet, den Peter an den Apparat des Hauswarts rufen. Strahlend kommt er zurück und gibt der Mutter einen Kuss mitten auf den Mund.
Die Mutter meint lächelnd: Der galt wohl der Ursel?
Weshalb nicht dir?, fragt der Peter.
Ja, heute Abend werden die jungen Leute den Ton angeben; das wird eine andere Musik!
Tagsüber ist es ziemlich ruhig in der Wohnung. Der Vater muss ins Büro. Erich ist zum Dienst; er will mit Rücksicht auf die Heimkehr der Brüder um noch einen Tag Urlaub nachsuchen.
Den Heinz hält es nicht in den vier Wänden. Er möchte zu den Eltern seiner alten Schulkameraden, er möchte wieder einmal durch Berlin pendeln, durch die Straßen, die Menschen sehen, die alten Plätze und auch die Zerstörungen, die der Großangriff des Tommy verursacht hat. Und dann die Ruhe, mit der die Mutter den häuslichen Kleinkram verrichtet, ja, diese stille, mütterliche Liebe das alles geht ihm direkt auf die Nerven. Auch dass der Peter sich seine alte Trainingsjacke angezogen hat und der Mutter hilft, Kartoffeln schälen, einen abgebrochenen Schrubber an einem neuen Stiel befestigen und eine Gardinenstange in Ordnung bringen all das war früher vor den Panzerschlachten und den Fahrten kreuz und quer durch Europa vielleicht ganz normal. Aber heute, da es um die Aufrichtung und Verteidigung der germanischen Kultur gegen den Einbruch des Bolschewismus und der anglojüdischen Plutokratie geht, da der Aufbruch der Nation im Buch der Geschichte mit Blut und Eisen geschrieben wird, oder wie Nietzsche es ausdrückt: wo geboren wird, muss Blut fließen!, da sie, die jungen Soldaten, die Schildträger und Schwerthalter dieser großen Stunde sind , in dieser Stunde sich an die Schürze der Mutter zu hängen, das ist nicht sein Fall!
Gewiss, er wird versuchen, als Urlauber in der Stadt noch ein paar Flaschen Bier und andre Kleinigkeiten für heute Abend aufzutreiben; aber vor allem will er die Berliner Luft wieder atmen zwischen dem Lehrter Bahnhof, der Chausseestraße und der Friedrichstraße, Unter den Linden und dem Potsdamer Platz. Den Menschen und den Zerstörungen muss man ins Auge sehen! Der warme, gütige, mütterliche Dunstkreis wirkt auf ihn wie eine Narkose.
Er rennt durch die Straßen oder durch das, was früher einmal diesen Namen verdiente. In der Friedrichstraße, nach den Linden zu, sind ganze Häuserblocks wie wegrasiert, riesige Lücken eröffnen dem Blick eine Sicht in weiter entlegene Wohnviertel. Dazwischen breite Schutthalden, aus denen hier und da blaugraue Rauchsäulen aufsteigen. An einer andern Stelle ist ein ganzer Straßenzug umgelegt; Arbeitskolonnen haben begonnen, mit Spitzhacke und Schaufeln einen Trampelpfad durch das Trümmerfeld zu bahnen. Überall wühlen dort Frauen und alte Männer zwischen den Steinhaufen. In der ehemaligen Mohrenstraße sieht er an der Mauer eines ausgebrannten Hausskeletts einen handgeschriebenen Zettel: Bin nach Breslau, Hitler-Straße 17, verreist! Herzlichen Gruß Berta. Manchmal müsste man einen Stadtplan haben, um sich zu orientieren. In der Nähe der Behrenstraße steht eine Menschenschlange. Dort wurde aus den Mauerresten und einem Holzverschlag eine Art Baracke hergestellt mit der Aufschrift: Posthilfsstelle. Offenbar wurde das zuständige Postamt zerstört. Die Leute suchen hier ihre Briefe zu erlangen. Ringsum stinkt es nach Rauch, Brand und süßlicher Verwesung. Die Menschen schauen mit fremden, leeren Augen aneinander vorbei.
Droben im zerbrochenen Fensterrahmen einer Hausfassade hängt ein Bett mit Nickelbeschlägen, ein gelbseidenes Plumeau weht wie eine Quarantänefahne. Da hinauf kann niemand. Man muss die Fassade sprengen. Auch hier stehen überall auf dem Schutthaufen Hitlerbilder, die den Führer in den verschiedensten großartigen Posen zeigen, in Reih und Glied nebeneinander aufgepflanzt wie Totenkreuze auf einem Friedhof. Seltsam!
Die Schaufenster der großen Geschäfte sind mit Brettern vernagelt; wo einst Aschinger und das Kaffeeimporthaus standen, befindet sich nur noch ein Holzverschlag. Das also ist Berlin! So sieht es im Zentrum der Weltstadt aus!
Wahrhaftig kein Urlaubsvergnügen, durch Berlin zu pendeln! Ganz anders ist das als im erdreichen Grabengelände der Front. Die Wunden einer Stadt klaffen tiefer als die Wunden einer Landschaft. Die Stadt kannte man als ein Menschenmeer voller Bewegung, Arbeit, Freude; die Veränderung ist hundertmal größer.
Heinz geht selbst wie ein Gespenst der zerbombten Stadt durch die verwüsteten Straßen. Was hat er hier zu suchen? Weshalb ist er eigentlich hierhergekommen? Er rennt jetzt durch die Leipziger Straße zum Potsdamer Platz. Überall kann es ja so nicht sein! Er fährt mit der U-Bahn nach Charlottenburg. Doch auch da bemerkt er die vielen hohen Bretterwände an Stelle der Häuser. An dem Eingang zur U-Bahn stehen ein Dutzend Fliegender Händler, die Pappschachteln mit Bindfaden als Bombenkoffer verkaufen; einer ruft dreist: Tadelloser Koffer zur Fahrt in die Bombenfrische! Sonderpreise für Ausgebombte! Heinz dreht sich um, diesem schnöden Konjunkturritter ein kräftiges Wörtchen zu sagen; aber es ist ein einbeiniger Krüppel im Soldatenrock.
Genug! Er geht zur Klopstockstraße, zur Mutter seines Freundes Otto Harms. Ein Glück, das Haus ist unversehrt. Er rennt die Stufen hinauf zur dritten Etage. Hier wird er ausruhen und mit der guten Alten ein paar vernünftige Worte reden können. Ja, an der Türe ist noch das Messingschild. Wie er klingeln will, sieht er am Briefkasten einen kleinen aufgeklebten Zettel: Bis auf weiteres verreist.