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Sie nannten mich Nettelbeck von Heinz-Jürgen Zierke
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
30.03.2015
ISBN:
978-3-95655-284-7 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 317 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Geschichte, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Action und Abenteuer, Belletristik/Biografisch, Belletristik/Familienleben, Belletristik/Politik
Abenteuerromane, Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Kriegsromane, Biografischer Roman, Kriminalromane und Mystery, Familienleben
2. Weltkrieg, Koslin, Festung, Napoleon, Gneisenau, Schill, Belagerung, Deserteur, 19. Jahrhundert, 20. Jahrhundert, Biografie, Drama, Familienbeziehungen, historisch, Krieg, Militär, Politik, Spannung, Tod und Sterben, Überleben
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Aus Haralds Kopfwunde sickerte Blut in den Sand. Ich ließ mich auf die Knie nieder und hob ihm den Kopf ein wenig an. Harald reagierte nicht, als ich ihn anfasste, aber er atmete. Der Unteroffizier, der Mann mit der winzigen Narbe am glatten Kinn und der angenehmen Stimme, trat heran. Ich fühlte einen drohenden schwarzen Schatten über mir; ich sah nicht auf, sah nur dem Jungen in das graue, blasse Gesicht mit den halb geschlossenen Augen.

Mein Blick fiel auf die Stiefelspitze neben meiner Hand, schmutziges, sandverkrustetes Leder, das vor wenigen Stunden noch lackschwarz geglänzt hatte und in der ersten Stunde der Ruhe wieder glänzen würde. Ich hob den Blick, den Stiefelschaft entlang, die Reithosen aufwärts, den taschenbesetzten grauen Rock, aber bevor ich zum Gesicht kam, dem glatten Gesicht mit der rötlichen Narbe am Kinn, sagte die angenehme Stimme über mir: „Will sich drücken, der Bruder!“

„Hören Sie, er muss in ein Lazarett.“

„Lazarett? Einen Guss Wasser über das Gesicht, dann läuft er wie der Hase gegen den Igel.“

Mir war, als stürzte mir einer den Eimer Wasser in den Nacken. „Sehen Sie das nicht?“ Ich hielt ihm meine blutverschmierte Hand entgegen.

Die Stiefel, die Reithosen, der graue Rock lachten, und das Lachen hörte sich an wie Schläge eines Blechlöffels gegen das Kochgeschirr. „Wer ist heute nicht verletzt? Hunderte, Tausende, Millionen, Mann! Was suchen Sie überhaupt hier, Sie Zivilist?“

Ich drehte Haralds Kopf zur Seite und bedeckte die Wunde mit einem Taschentuch.

Die schmutzverkrusteten Stiefel traten einen Schritt zurück. Ich richtete mich auf, sah mich nach einem der Soldaten um. Sie waren jung wie Harald, ihnen konnte das gleiche geschehen sein, meine Söhne hätten sie sein können, fast meine Enkel, sie mussten ihn, mich verstehen, mussten mir helfen. Aber der eine lief vorbei, die Granate im Arm, er wollte nicht herschauen, das sah man ihm an; er wollte nicht mitleidig sein, er ging vorbei. Es hätte vielleicht eines Wortes bedurft, und er würde sich den Jungen, seinen Kameraden, auf die Schulter geladen haben, um ihn in das nächste Lazarett zu schleppen. Aber es sagte niemand dies Wort. Ich wollte ihn anrufen, ich hätte ihn anrufen können, aber ich tat es nicht, er trug eine Granate im Arm.

Und der andere, der gesagt hatte: „Wenn er aufwacht, ist der Schlamassel vorbei“? Ja, „Schlamassel“ hatte er gesagt. Ich hob die Augen auf zu ihm, dessen Knabengesicht ebenso hohlwangig aussah wie das Haralds. Er spürte meine wortlose Frage, und seine Augen begannen zu flackern, die bleichen Wangen, von der Nasenwurzel beginnend, füllten sich mit einem tiefen Rot; der Blick irrte zu dem Unteroffizier hinüber, der dastand, gerade so, als ob er für eine Karikatur Modell zu stehen hätte, und der Junge senkte die Augen und trottete zu dem Munitionsstapel.

Nein, es bestand nicht die geringste Hoffnung, dass sie Harald halfen, wenn nicht der Unteroffizier einen Befehl oder wenigstens sein Einverständnis gab.

Kaum hatte ich ihn angesehen, tobte er auch schon: „Was wollen Sie von mir? Dem helfen? Einem Selbstverstümmler? Lassen Sie ihn hier krepieren, dann spart die Feldgendarmerie den Strick!“

Ich konnte die Worte der so angenehmen Stimme nicht länger ertragen. Ich blickte zu dem Bauern in der grauen Joppe, der seine immer noch erregten Tiere an der Trense hielt. Auch er sah fort, schaute nur seine Pferde an, die am Geschirr zerrten. „Ich muss Munition fahren. Sie nehmen mir sonst das Gespann fort.“

Wie sollte ich den Jungen von hier fortschaffen? Eile tat not; er musste zum Verbandplatz. Ich nahm mich zusammen, straffte mich, versuchte meiner Stimme einen harten Klang zu geben. „Ich bin Soldat des ersten Weltkrieges, war Leutnant bei der gleichen Waffengattung.“ Der Unteroffizier ließ mich nicht ausreden. „Ihr alten Mumien habt uns den einen Krieg vermasselt und wollt uns jetzt den zweiten versauen. Das lassen wir nicht zu, Sie! Warum sind Sie ohne Waffen, wenn Sie Soldat sein wollen? Wer sind Sie überhaupt?“

„Ich bin ...“, ich hatte es nicht sagen wollen, ich hatte mit keiner Silbe daran gedacht, ich weiß jetzt noch nicht, wie es mir in den Mund kam, es brach aus mir hervor: „Ich bin Nettelbeck.“

„Sie! Lustig machen wollen Sie sich über mich? Das soll Ihnen schlecht bekommen! Ich werde Sie melden, Sie und Ihren Ganymed. Wehrkraftzersetzung.“ Er griff nach Notizbuch und Bleistift, die er, anders als sonst die Leute seines Ranges, aus der Seitentasche des Rockes zerrte. In diesem Augenblick, er setzte gerade den Stift zum Schreiben an, und so muss ich den Zufall preisen, in diesem Augenblick wurde von der Geschützstellung her gerufen: „Unteroffizier Imm zum Batteriechef!“

Er ging, zornrot bis ins Kinn, dass die Narbe wie eine bleiche Insel wirkte, und schrie mich an: „Sie kommen beide an die gleiche Laterne!“

Vielleicht, nachdem der Unteroffizier, ihr Peiniger, der Mann mit der rosa zuckenden Narbe am glatten Kinn, abberufen worden war, sie nicht mehr unter Kontrolle hatte, vielleicht waren die Soldaten jetzt eher bereit zu helfen.

Ich hoffte vergeblich.

Ich bin Lehrer, ich habe Knaben erzogen, ich weiß nicht, wie viele. Sind aber die, die durch meine Klassen gegangen sind, anders geworden als diese? Hätten sie anders gehandelt in diesem Augenblick?

Der eine - nur der eine antwortete - fasste sich mit der Hand an den Hals, malte mit dem Finger die Bewegung des Strickes. Keiner half! Und in zweieinhalb Stunden ging mein Boot. Der Major wartete, meine Frau, meine Tochter, meine Manuskripte.

Ich knüpfte ein sauberes Taschentuch um Haralds Kopf. Vielleicht half mir einer, den Jungen aufzuladen, bestimmt hat es einer getan, allein hätte ich es kaum geschafft; aber ich sah mich nicht danach um. Ich richtete mich auf, ächzend unter der Last. Die alte Verwundung, die mich seit dem Donon, seit den letzten Tagen des letzten Krieges quält, vor allem bei einem Wetter wie diesem, das mehr dem Herbst als dem des Frühlings gleicht, dazu mein Rheuma und die Jahre, sie machten es mir schwer, mich aufzurichten. Ich glaubte zusammenzubrechen, aber gleichwohl, ich stolperte voran. Ich sah vor mir die alte Ziegelscheune mit dem Eulenloch im Giebel. Bis dahin musste ich kommen, dort konnte ich mich anlehnen und einige Augenblicke ausruhen.

Weit her vom Geschütz hörte ich den Unteroffizier mit seiner vollen Stimme Kommandos geben. Ich dachte nicht daran, dass er hinter mir herstürmen und mich mit seiner Last zu Boden schleudern, dass er dem nächsten Kanonier den Karabiner von der Schulter reißen und mich und Harald niederschießen konnte. Unsinnigerweise stellte ich mir, als ich die angenehme, grausame Stimme hörte, die Frage, was ich wohl an Kramohls, was ich an Nettelbecks Stelle getan hätte, wenn dieser Mann mit der rosigen Narbe am glatten Kinn meine Tochter, Karla, anrührte. Merkwürdigerweise fiel mir in diesem Augenblick der Fähnrich ein, ein Neffe meiner Frau, heimlicher Verehrer Karlas - im letzten Frühjahr hatte er für sie Tulpen aus einem fremden Garten gestohlen, ausgerechnet Tulpen, die sie nicht mochte -, und sein blasses Jünglingsgesicht verschwamm mit dem des Mannes mit der Narbe. Ich sah mich, den Bürgerdegen in der verkrampften Faust, auf den Unteroffizier Imm eindringen - aber ich schüttelte diese unsinnige Vorstellung ab. Die Geschichte wiederholt sich nicht, auch nicht in Kleinigkeiten. Der Leutnant Jahn stand nicht im Unteroffizier Imm wieder auf, und kein Gneisenau konnte kommen, um die Stadt zu retten. Retten? Vor wem? Als sie Preußen nicht mehr ertrugen, schiffte sich Gneisenau nach England ein, Stein und Clausewitz gingen nach Russland, und sie kämpften in fremden Heeren gegen ihren König, Clausewitz an der Seite Kutusows. Sie kehrten zurück, als ihr Volk den Kampf um die Freiheit begann ...

Ich sah die Scheune vor mir, die rote Ziegelscheune mit dem schwarzen Tor. Noch achtzig Schritt hatte ich bis dahin, noch siebzig, dann konnte ich mich vier, fünf Atemzüge lang ausruhen; von dort aus waren es noch hundert 40 Schritt bis zu den ersten Häusern der Vorstadt.

Mit fliegendem Atem erreichte ich die Ziegelscheune und sank an die schmutzige, rotbraune Wand, in deren Fugen sich grau-grüne Flechten angesiedelt hatten. Ich lehnte an der Mauer, und die Mauer war hart. Ich stieß mich ab, wankte weiter, erreichte schließlich das große, schwarze Scheunentor. Wie gern hätte ich Harald auf den Erdboden niedergelassen, auf die welke Grasnarbe über dem weichen Sand, hätte ich mich aufgerichtet, den Rücken gestreckt, mich ausgereckt wie morgens nach dem Aufstehen! Aber nein, ich fürchtete, Harald nicht mehr auf den Rücken zu bekommen.

Ganz in der Nähe schlug eine Granate ein, jenseits der Scheune wohl, das Beben der Torflügel warf uns fast um.

Der Luftdruck riss die lockeren Dachziegel von den Sparren, Bruchstücke fielen in den Sand. Wir mussten sofort weiter!

Wie viel Zeit war vergangen? Wie lange wartete der Major? Meine Uhr aus der Tasche nehmen konnte ich nicht, ich hätte Harald loslassen müssen. Eine Viertelstunde über die Zeit konnte bedeuten, dass Blissing in See stach und wir zurückblieben. Ohne mich fuhr meine Frau nicht, keinesfalls, glaubte ich, und wir wären alle verloren, begraben unter den Trümmern einer Stadt, eines Badeortes, den der blanke Wahnsinn zur Festung erklärte.

 

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