Zwischen Nürnberg, Leipzig und Afrika oder wer spricht schon Portugiesisch? – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 13.04. 2017) Diesmal führt die Reise der fünf Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de fünf Tage lang (Montag, 10.04. 17 - Freitag, 14.04. 17) zu jeweils stark reduzierten Preisen zu haben sind, sogar bis nach Afrika und in eine ferne Zukunft – vorher aber nach Nürnberg und nach Leipzig. Und gleich zwei Mal ist von Utopie die Rede. Eine handelt in eben jener fernen Zukunft. Und eine handelt im vergangenen Jahrhundert. Mehr dazu in einem Tagebuch aus Angola, das sich wieder zu lesen lohnt. Aber zunächst geht die Reise nach Nürnberg.
In ihrem erstmals 1983 im Kinderbuchverlag Berlin aufgelegten Buch „Das Männleinlaufen“ erzählt Renate Krüger eine Alt-Nürnberger Schelmengeschichte über einen Lebkuchenbäcker: Die Geschichte beginnt, als das Männleinlaufen, jenes berühmte mechanische Uhrwerk Nürnbergs, stehenbleibt, eine der Figuren abstürzt und Jockel Wolgemut, der Schelm, beschließt, am närrischen Schembartumzug durch die Stadt teilzunehmen. Er verkleidet sich als Fugger, als Mitglied der reichen Kaufmannsfamilie also, von deren Geld und Einfluss die Fürsten des ganzen Reiches abhängig sind. Jockel fühlt sich in seinem Element, er hatte die Idee zu dieser Maskerade und lässt die Männlein tanzen. Da wird er entdeckt von einem echten Fugger, und es kommt zu einem unglaublichen Angebot: Jockel soll mit ihm tauschen, soll seine Rolle wirklich spielen dürfen, nicht nur zum Spaß. Jockel entdeckt eine unbekannte Welt mit vielen Widersprüchen, erlebt Höhen und Tiefen und beschließt, sich nicht mehr von anderen in Bewegung setzen zu lassen, sondern ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Und bei einer für ihn gar nicht so schelmischen Gelegenheit treffen wir Jockel, den Schelm, das erste Mal: „Der neunzehnjährige Lebkuchenbäcker Jockel Wolgemut fühlt sich unbehaglich, als er plötzlich in die Rolle eines Angeklagten kommt und von scharfen Blicken und lauten Beschuldigungen des Vogtes der Nürnberger Frauenkirche zu Boden gedrückt wird. Dabei gilt dieses Verhör in der spitzgiebeligen kalten Kirchenvogtei gar nicht ihm, sondern dem jungen Maler Barthel Beham, und es will nicht in seinen Kopf, dass der Kirchenvogt so mit einem Maler umspringen darf. Maler sind angesehen in Nürnberg, und nun gar dieser, Kind einer alteingesessenen Familie, Schüler von Albrecht Dürer! Bei den Worten des Kirchenvogtes denkt Jockel bald an das Bellen eines Hundes, bald auch an das Fauchen einer Katze und das Stampfen eines Pferdes. Es kann also nicht so weit her sein mit dem Ansehen dieses Malers, denkt er, und ich werde wohl gut daran tun, mich von ihm abzusetzen.
Nun schreit der Kirchenvogt: „Meint Ihr, Maler Beham, wir lassen uns von Euch unsere ganze Ordnung durcheinanderbringen?“ Wir, sagt er. Unsere, sagt er. Wir haben unser Recht und unsere Macht, und du bist allein, du wirst schon sehen …
Der Maler Beham sagt ruhig: „Dazu braucht Ihr mich nicht mehr, Kirchenvogt, Eure Nürnberger Ordnung hat viele Risse und Löcher. Ist es ein Wunder, dass Eure Männlein darüber stolpern und stehen bleiben?“ „Ihr habt sie angehalten, die Männlein! Noch nie sind sie von selbst stehen geblieben!“ „Es wird Zeit dazu“, erwidert Barthel Beham. Dem Kirchenvogt bleibt das Wort im Mund stecken.
Jeden Mittag, wenn es langsam auf zwölf geht, versammeln sich viele Nürnberger an der Giebelseite der Frauenkirche, um das Männleinlaufen zu sehen, das sie zwar längst alle kennen, von dem sie aber doch immer wieder gefesselt werden. Wenn der erste Mittagsschlag über den Hauptmarkt hallt, eröffnet die Figur des Ausrufers unter der vergoldeten Uhr das Spiel mit dem Geläut eines Glöckchens. Dazu öffnet und schließt er seinen nicht gerade klein geratenen Mund wie ein Nussknacker. Wenige Augenblicke später beginnt der Ordner des Aufzuges im anderen Fensterchen unter der Uhr seine Amtstätigkeit und gibt mit einem Stäbchen den Takt für die Begleitmusik an. Zwei Posaunenbläser, ein Trommelschläger und ein Flötenpfeifer wetteifern miteinander. Sie mühen sich zwar nur stumm ab, und doch ist der Nürnberger Hauptmarkt von Musik erfüllt wie bei den prächtigen Aufzügen des Rates. Feierlich schreiten nun nacheinander sieben Figuren aus einem Pförtchen des Kirchengiebels in ihren roten Mänteln und den Kragen aus weißem Hermelinfell, auf dem die Schwanzenden der wertvollen Pelztierchen als schwarze Tupfer sitzen. Für wen nun diese feierliche Pracht? Für den Kaiser natürlich! Der sitzt im Herrschergewand auf seinem Thron, lässt sich dreimal von den Kurfürsten umrunden und neigt gnädig und gut gelaunt sein Zepter, unter das sich die Kurfürsten beugen müssen, bevor sie wieder in Ihrem Türchen verschwinden dürfen.
So geschieht es jeden Mittag, nur eben heute nicht. Gerade als sich der Kurfürst von Sachsen, die bemalte Figur, versteht sich, vor dem Kaiser verneigen sollte, blieb der Männleinzug einfach stehen. Ob sich das Kurfürstenmännlein seine Ehrenbezeigung wohl noch abgerungen hat? Augenblicklich wendet der Kurfürst von Sachsen der Kaiserlichen Majestät den Rücken zu und schaut triumphierend auf den Hauptmarkt herunter, auf dem die Leute mit gerunzelten Stirnen und unfreundlichen Mienen stehen. „Die Männlein sind stehen geblieben“, hört es Jockel schon wieder von draußen schreien, und es trifft ihn wie ein Peitschenhieb. Gleich wird die Reihe an ihn kommen, und mit einem Lebkuchenbäcker wird der Kirchenvogt noch härter umspringen als mit einem Maler.
Hoffentlich geht es nicht dem Vater an den Kragen, der leidet schon genug an seinen Zahnschmerzen! Vom Rat beauftragt und bezahlt, hat der Uhrmachermeister Melchior Wolgemut über das Männleinlaufen zu wachen. Es blieb ihm jedoch seiner kranken Zähne wegen nichts anderes übrig, als sich von Jockel vertreten zu lassen, denn ein Gast aus Wittenberg wünschte zusammen mit dem Maler Beham das mechanische Kunstwerk ganz aus der Nähe zu sehen. Jockel war stolz darauf, denn er versteht vom Männleinlaufen und von der Kunstuhr genauso viel wie vom Lebkuchenbacken. Wie konnte es nur passieren, dass …
Auweih, denkt Jockel, als sich der Kirchenvogt erhebt und mit vorgestrecktem Kopf auf ihn zustampft. Du hast nicht aufgepasst, wird er gleich sagen, du hast nicht – du bist nicht … Aber nichts davon. „Lebkuchenbäcker bist du? Ein guter alter Nürnberger Beruf!“
Das ist zumindest fürs erste noch einmal gut gegangen. In einer ganz anderen Klemme sitzt dagegen Karl Bennewitz aus dem erstmals 1985 unter dem Titel „Der Sog“ im Mitteldeutschen Verlag Halle/Leipzig und 1989 unter dem Titel „Ein tödliches Ultimatum“ im Fischer-Taschenbuch-Verlag Frankfurt am Main erschienenen Buch von Jan Flieger. Dem E-Book liegt die überarbeitete, 2015 im fhl Verlag Leipzig erschienene Auflage zugrunde. Das Buch wurde in der Reihe „Der Staatsanwalt hat das Wort“ unter dem Titel „Alles umsonst“ verfilmt: Nie gehörte Karl Bennewitz zu den Erfolgreichen, denen irgendetwas in den Schoß fällt. Bis er eines Tages seinen alten Freund Röbel wieder trifft und der ihm einen Job als Abteilungsleiter in „seinem“ Maschinenbaubetrieb verschafft, wo noch ein „zuverlässiger“ Mann fehle. Was Röbel damit meinte, begreift Bennewitz bald. Die staatlichen Subventionen für Rationalisierungsprogramme, in der DDR „Neuererwesen“ genannt, erweisen sich als unerschöpfliche Quelle für den privaten Wohlstand einiger Betriebsangehöriger. Lange Zeit läuft alles gut, doch dann lernt Bennewitz die junge Karin März kennen und will sich von seiner Frau trennen. Franziska denkt nicht daran, ihn aufzugeben - und mit ihm das angenehme Leben im Wohlstand. Sie stellt ihm ein Ultimatum: Entweder du bleibst bei mir - oder ich lasse dich „hochgehen“. In Bennewitz reift ein verzweifelter Mordplan ...
Hier ein beklemmender Ausschnitt vom Anfang des spannenden Buches von Jan Flieger. Bitte festhalten! „Das Meer funkelt seltsam grün, seine Farbe ähnelt der des Wassers nach einem Zusatz von Fichtennadeln. Der Himmel ist grau und die wenigen Wolken treibt der Wind auseinander wie ein wildernder Hund die Schafherde, wenn er den Hirten weit genug entfernt weiß und auch seinen vierbeinigen Helfer. Bennewitz schwimmt in die offene See, er schont seine Kräfte, denn wenn er zurückschwimmt, muss er gegen den Sog kämpfen, der versuchen wird, ihn wieder hinauszuziehen.
Ringsum sind nur die Wellen und ein großes Rauschen. Bennewitz schwimmt, bis er kein Ufer mehr sieht und die Wellen stärker werden. Er liebt diese Kraftproben mit dem Meer. Bennewitz schwimmt ruhig, mit gleichmäßigen Bewegungen der Arme und Beine, er genießt ihre Kraft, er genießt die Wildheit des Wassers und die des Windes.
Die Sturmbälle sind längst aufgezogen an den hohen Stangen über den weißen Türmen in den Dünen, und die Rettungsschwimmer verjagen jeden Badenden aus dem Wasser. Bennewitz aber schwimmt dort, wo ihn kein Ruf mehr erreicht. Das salzige Wasser peitscht sein Gesicht. Einmal berührt sein Mund ein Bündel Tang. Nun ist es ihm, als ob die Wellen höher werden. Er wendet sich endlich, um zurückzuschwimmen, doch er kommt nicht voran.
Er schwimmt und schwimmt, aber das Wasser zieht ihn hinaus. Der Sog ist unendlich stark, er packt den Schwimmer mit einer gewaltigen Kraft. Bennewitz lässt sich treiben, er atmet tief durch, lockert die Arme und die Beine, schwimmt dann wieder mit kräftigen Stößen in Richtung des Strandes.
Aber er sieht ihn nicht, auch wenn ihn die Wellen emporheben wie einen Ball und er aus dem Wasser schnellt, um Ausschau zu halten. Die Wellen tragen ihn nicht dem Strand entgegen, sie werfen ihn sich gegenseitig zu, er spürt es nun ganz deutlich, und in ihm wächst Unruhe. Oder ist es schon die Angst ...
Es ist nachmittags, aber mit einem Male scheint der Himmel die Helligkeit des Tages aufzusaugen. Grau breitet sich aus, als wolle die Dunkelheit schon anbrechen. Das Wasser wird allmählich schwarz, als sei eine riesige Teerwoge aus einem Tanker geflossen und treibe nun dem Strande zu.
Die Wellen heben Bennewitz, werfen ihn in ihre Täler hinab, sie wachsen, werden höher und höher, reißen ihn vorwärts, doch der Sog zurück ist heftiger, stärker als Arme und Beine. Bennewitz atmet hastiger, er spürt, wie ihn die Kraft verlässt, er schluckt Wasser und hustet den salzigen Trunk wieder aus.
Möwen fliegen über ihn hinweg, dem Ufer entgegen, ihre Schreie gellen ihm in den Ohren, so schrill, dass seine Trommelfelle schmerzen. Allmählich klingen die Schreie dumpfer, seine Arme und Beine werden schwer wie Blei. Doch er versinkt nicht. Er empfindet das Wasser als eine dicke, zähe Masse, die ihn hinausträgt, er hört keine Möwen mehr, nur eine seltsame Stille ist um ihn, und als er um Hilfe ruft, vernimmt er nicht einmal seine eigene Stimme.
Allein der Sog ist geblieben, unerbittlich zieht er Bennewitz mit. Dann durchfährt ihn der Schreck, als er die Plattform sieht und das Gebäude auf ihr, drohend sieht er sie beide vor sich. Das Haus besitzt keine Fenster, nur schmale Schlitze, und das Wasser wirbelt zwischen den dicken Pfeilern wie ein ungebändigter Mahlstrom. Angst packt Bennewitz, eine rasende, eine schmerzhafte Angst, die ihm die Luft nimmt.
Er wehrt sich gegen den Sog, aber es gibt keine Hoffnung, das Wasser trägt ihn den Pfeilern entgegen. Er schreit, aber aus seiner Kehle kommt kein Laut.“
Ebenfalls ziemlich kriminell geht es in dem erstmals 2014 im fhl-Verlag Leipzig veröffentlichten Buch „Der Vierfachmord von Stötteritz“ von Jan Flieger zu: Neun Schüsse. Vier Tote. Viele Verdächtige. Schüsse zerreißen die Leipziger Nacht in Stötteritz und löschen vier Leben aus – doch der Täter flieht. War es ein Auftragsmord oder eine Verzweiflungstat? Wurde ein V-Mann liquidiert? Starben die anderen zur Ablenkung? Läuft gar einer der Verdächtigen Gefahr, das nächste Opfer zu werden? Und dann gibt es da noch die Spur zu einer jungen Frau, die in die rechte Szene führt. Für Thomas Tiller und sein Team der Mordkommission beginnt eine Suche, die sie tief in ein Labyrinth aus Hass und Rache führt, über die Grenzen Deutschlands hinaus bis in die Straßen Tokyos und die raue Ödnis Islands. Die Zeit rennt. Und die starren Augen der Toten treiben zur Eile …
Greifen wir uns einen Zeitpunkt kurz vor Mitternacht heraus, kurz nach dem Beginn der Handlung: „Es war 23:13 Uhr und verschiedene Personen in Leipzig erlebten diesen Zeitpunkt auf sehr unterschiedliche Weise. Einer von ihnen, Oberländer, der einmal vor sehr langer Zeit ein Oberstudienrat gewesen war und nun als Rentner lebte, blickte aus dem Fenster und musterte finster die Feiernden vor dem Nachbarhaus, die er hasste, denn sie feierten einfach zu oft und vor allem zu laut. Aber was half es, wenn man sich beschwerte? Heute mischte man sich nicht mehr ein, nirgendwo, es konnten einem sonst die Reifen zerstochen werden oder der Lack des Autos nahm Schaden. In einem Haus der Parallelstraße sah Oberländer einen rauchenden Mann am Fenster in der dritten Etage stehen, den er flüchtig kannte, er sollte, so wurde erzählt, einmal ein Polizist gewesen sein, ehe man ihn in Unehren entlassen hatte. Aber wo gab es noch Ehre in dieser Gesellschaft?
Oberländer schloss das Fenster, aber sein grenzenloser Hass auf die Lärmenden wollte nicht weichen und so bebte er am ganzen Körper und krallte die Hände in die Handflächen. Nahezu im selben Augenblick lag ein Mann im Stadtteil Leutzsch in einem Zimmer mit Stuck im Erdgeschoss, an Händen und Füßen gefesselt, auf einem sehr breiten Bett; wehrlos lag er da und völlig nackt und auf sein kalkiges Gesicht presste sich der pralle, schokofarbene Po einer jungen Frau, der alles verdeckte, seinen Mund, seine Nase und seine stets vorquellenden stahlblauen Basedow-Augen. Der üppige Po nahm dem Mann die Luft, und Lust und Angst waren Gefühle, die ihn nun erfüllten, aber die Lust überwog natürlich, sie war einmalig, denn Facesitting, wie man diese Art von Sex nannte, war für ihn wohl das größte Erlebnis, erst seit der Wende kannte er es. Vendys Po war ein herrliches Gefängnis, das einen Mann zur Raserei bringen konnte, und die Reiterin lachte schallend, so war es abgesprochen, dieses Lachen gehörte zu den Dienstleistungen der jungen Dame, die der Gefesselte sich gönnte, weil sie den Druck seines Berufes nahmen, wenn auch nur für eine Stunde, denn die Minuten verrannen nur einfach zu rasch, viel zu rasch, und sie waren auch wahrhaftig teuer, viel teurer als in Berlin.
Dieser genießende Nackte hieß Wolfgang Werner und befasste sich, wenn er nicht auf diesem Bett lag, mit Morden, die in Leipzig geschahen, und seine Kollegen hatten ihm den Spitznamen ›Fischauge‹ gegeben, obwohl sie nicht wagten, ihn so anzureden, denn Fischauge konnte buchstäblich zum angriffslustigen Pitbull werden und sehr nachtragend sein, er vergaß eine Beleidigung auch nach Jahren nicht und schlug irgendwann zurück, denn er besaß das Gedächtnis eines Elefanten.
Sein Chef hingegen, Hauptkommissar Thomas Tiller, eine lebende Legende der Leipziger Mordermittler, saß — ohne allerdings von Fischauges augenblicklichen, seltsamen Genüssen nur das Geringste zu ahnen — im City-Pub „Kildare“ im Barfußgässchen, dieser so munteren, auch bei Touristen sehr beliebten und vielbesuchten Kneipenmeile. Er mochte die alten Holzmöbel im Pub, das düstere Licht und das Publikum, diese Mischung aus Jung und Alt, und er trank gerne Bier vom Fass, hier gab es zwölf gute Sorten, und „Murphy’s Red“ schmeckte ihm am besten, und irgendwie erinnerte ihn alles ein wenig an Dublin, die Stadt, die sein Mekka war und die er über alles liebte und die er ab und zu einmal anflog, um sie wiederzusehen. Endlich erlebte er einen Sonnabend, an dem er ein wenig Luft hatte vom Dienst und dem ständigen, nie endenden Druck, dem keine Frau gewachsen war als Partnerin, nach der er sich sehnte, aber die er einfach nicht fand, denn für die Suche im Internet fehlte ihm die Zeit – so war und blieb er der einsame Wolf mit dem angegrauten Haar und so saß er reglos, lauschte, nahm Gesprächsfetzen auf, träumte vor sich hin. Sein Gesicht mit dem entschlossenen Kinn war scharf gekerbt, ein Gesicht, das dem des größten Königs aller Preußen ähnelte, von dem ein Bild in seiner Wohnung hing. Er war nun fünfzig Jahre alt. ›Bluthund‹ nannten ihn die Kolleginnen und Kollegen hinter vorgehaltener Hand, weil er einen Täter gnadenlos und verbissen hetzte, ohne sich, wenn es darauf ankam, selbst zu schonen, und im Dienst war er eigentlich immer, und seine Erfolge waren legendär, ja, man war sogar der Meinung, dass er über eine Art sechsten Sinn verfügte. Philipp Raschke, einer seiner Männer, hatte bei einer Weihnachtsfeier über ihn lachend gesagt, Tiller wäre wohl schon als Polizist geboren worden, in seinem grauen Anzug, den er immer trug, und mit einem Dienstgrad und einem Holster und einer Pistole. Diese Worte Raschkes hatte Tiller nicht gemocht, da alle gelacht hatten, er hingegen lachte wenig und auch ein Lächeln huschte selten über sein Gesicht; heute aber, als er einer jungen Dame am Zapfhahn zuwinkte, deutete er ein Lächeln an, denn er mochte Vicky, ihre erfrischende, unkomplizierte Art, aber in ihren Augen war er gewiss schon ein Opa und damit wohl ein geschlechtsloses Wesen.“
Kurz nach der Wende, 1990, brachte Alexander Kröger im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig seinen utopischen Roman „Andere“ heraus. Auch dem E-Book liegt die Originalausgabe von 1990 zugrunde: Nahezu unversöhnlich stehen sich Maren Call und Ray Mentzig auf dem internationalen Kongress gegenüber. Sollen aus der Phiole mit den Zellkernen, die Wally 327 Esch aus dem Weltraum mitgebracht hat (siehe »Souvenir vom Atair« desselben Autors), eine neue Wesenheit, eine neue Population, also Andere entstehen oder nicht? Maren ist dagegen. Sie fürchtet, der Lebensraum Erde reiche nicht aus, eine Vermischung der Menschen mit den Anderen sei nicht auszuschließen und könne irreversible genetische Schäden bringen und womöglich die Menschheit dezimieren. Ray ist für die Entwicklung der Anderen auf dem Erdball mit Hilfe von Leihmüttern und dafür, sie später auf einem anderen Planeten anzusiedeln.
Das ist der Ausgangspunkt dieses utopischen Romans von Alexander Kröger aus dem Jahr 1990. Er möchte damit auf die Verantwortung der Menschen für sich selbst aufmerksam machen, im weitesten Sinn davor warnen, sich durch Krieg, Umweltverschmutzung oder biologische Experimente zu schädigen oder gar zu vernichten.
Und so erleben wir die erste Konfrontation von Maren Call und Ray Mentzig:
„Marcus 662 Arkade, der Tagungsleiter, las laut, aber monoton, offensichtlich wollte er sich rasch dieser Aufgabe entledigen. Die geringe Aufmerksamkeit, die das Auditorium dem Vortrag entgegenbrachte, störte ihn offensichtlich nicht. Die Strahlen der Sonne zeichneten Rhomben auf Fußboden und Tische. Es vertropfte jene Stunde des Tages, die die Physiologen als die unproduktivste kennzeichnen, der Zeitraum nach dem Mittagessen, bei einem länger, beim anderen kürzer das Aufnahmevermögen beeinträchtigend.
Das bewies ein Blick in die Runde der Versammelten. Und auch der erlauchte Kreis blieb nicht verschont; die zwei Drittel älterer Herren strahlten also keineswegs die Lebhaftigkeit aus, die das Thema der Tagung eigentlich abverlangt hätte. Bei den anwesenden Frauen und einigen jüngeren Männern hatte man nicht unbedingt den Eindruck, sie seien ebenfalls der allgemeinen Müdigkeit verfallen, aber auch sie hörten dem Tagungsleiter nur mäßig interessiert zu, der ein — auch noch sehr umständlich formuliertes — Gutachten über die Verträglichkeit, Verschmelzung gar, von Genen unterschiedlicher Spezies trocken verlas. Obzwar von einer Koryphäe auf diesem Gebiet erstellt, wusste man schließlich nicht, ob und wann und unter welchen Bedingungen so etwas stattfand oder verhindert wurde. Und es hatte durchaus den Anschein, als ob nicht wenige Angehörige der erweiterten Ratssitzung der Internationalen Front ein derartiges Traktat als leichte Zumutung empfanden. Der Schluss des Vorgelesenen ging dann auch in einem allgemeinen Gemurmel unter, der Tagungsleiter klappte das letzte Manuskriptblatt betont um, blickte über die Brille hinweg in den Saal und sagte mit erhobener Stimme, mit einer gewissen Schärfe auch im Ton: „Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr Maren nulleinundzwanzig Call, Vorsitzende der Ständigen Kommission Ökologie und Bioschutz, das Wort!“
Das Gebrummle im Raum flaute jäh ab, viele der Anwesenden veränderten ihre Sitzhaltung, deutliche Erwartung stand in den meisten Gesichtern. Es erhob sich eine mittelgroße, nicht übermäßig schlanke und kaum sehr attraktiv erscheinende junge Frau und schritt selbstbewusst, mit tackenden Absätzen, verfolgt von zahlreichen Blicken, zum Rednerpult. Ganz sicher hatte die Tagungsleitung den Beitrag der Call absichtlich auf diesen Zeitpunkt gelegt, gewiss, dass es ihr gelingen werde, die Aufmerksamkeit aller wiederzuerwecken, einen Höhepunkt zu setzen, wie schon oft. Trotz ihrer erst dreißigjährigen Lebenserfahrung hatte Maren 021 Call ihren guten Stand und Namen im Gremium. Und wenn sie auch ab und an übers Ziel schoss, niemals argumentierte sie leichtfertig. Ihre Beiträge zeugten von hoher Verantwortung, und sie löste sich nie von der in ihrer Kommission erstrittenen Disposition. Allerdings verstand sie, diese dann mit Vehemenz, Spott manchmal und viel Emotionalität überzeugend vorzutragen. Ein Blatt vor den Mund nahm sie nicht, und das erwartete man auch heute bei dieser brisanten Thematik, zumal die konträre Ansicht der Ständigen Kommission zur allgemeinen, durch das Präsidium stimulierten Erwartungshaltung bekannt war.
Maren 021 Call nahm den Platz hinter dem Pult ein, sah einmal über die Köpfe hinweg und begann: „Freunde! Nach dem engagierten Plädoyer unseres verehrten Freundes Ray dreihundertdreiundvierzig Mentzig, das er im Namen des Zentralrates der Vereinten Fortschrittsbünde hier vorgetragen hat, fällt es mir natürlich nicht leicht, den Standpunkt meiner Kommission zu vertreten. Noch schwerer wird es sein zu überzeugen. Aber ich muss es, wir müssen es, wenn von diesem Planeten Erde — ja, so groß muss ich das sagen — Unheil abgehalten werden soll. Und ich behaupte gleich: Was die Bünde vorschlagen und durchsetzen wollen, ist in diesem Falle alles andere als Fortschritt!“ Im Saal erhoben sich Gemurmel und vereinzelt Beifall.“
Von dieser kosmischen Utopie in einer fernen Zukunft soll es zum Schluss dieses Newsletters zu einer Utopie gehen, die noch gar nicht so lange zurückliegt, aber doch schon im vergangenen Jahrhundert und in Afrika. 1980 veröffentlichte Jürgen Leskien im Verlag Neues Leben Berlin sein angolanisches Tagebuch „Ondjango“: Ondjango. Was bedeutet eigentlich dieser Titel? Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren wieder Deutsche nach Angola gekommen, diesmal mit blauen Hemden und mit Werkzeugkästen in den Händen. Vom ersten Tag an waren sie den Angolanern companheiros. Mit der Ablösung dieser Männer kam auch Jürgen Leskien für ein Dreivierteljahr nach Angola, um dort zu leben, zu helfen und – Tagebuch zu führen. Seine Aufzeichnungen nehmen den Leser mit in die Zeit kurz nach dem Erringen der Unabhängigkeit des Landes 1975, erlauben Einblicke in die Geschichte des Landes und in das gegenwärtige Leben in der Hauptstadt Luanda. Wir nehmen teil an der Fahrt durch den Regenwald, treffen ein am Stützpunkt der FDJ-Brigade in der Stadt Uige, wo sie W 50-LKWs aus der DDR reparieren und jungen Leuten aus Angola zeigen, wie das geht. Jürgen Leskien ist angekommen in Afrika. Er wird noch viel hören und sehen und noch viel aufschreiben von diesem Afrika, von diesem Angola, damals Ende der siebziger Jahre. Geschrieben hat er damals übrigens mit der Schreibmaschine …
Ondjango. Dieses Wort bezeichnet eine etwas größere runde Hütte mit kegeligem Grasdach, die gewöhnlich in der Mitte des Dorfes steht und in der nach Sonnenuntergang ein Feuer brennt. Dann wird in dem Ondjango über alles geredet, was wichtig ist. Der Ondjango ist der Treffpunkt der Leute im Dorf: „Sie sitzen und reden miteinander. Der Alte auf der Matte, in der Nähe seine Kinder und Kindeskinder. Erzählen, zuhören, einander in die Gesichter schauen und darin lesen. Die Bedeutung der Pausen zwischen den Worten erspüren, der Melodie der Sprache lauschen wie einem Lied. Sich hineinsenken in die Gedankenwelt des anderen. Zueinander sprechen, einander zuhören - die ursprünglichste, wichtigste Form des Umgangs der Menschen miteinander. Für uns müssen wir sie erst wieder entdecken.“
Das angolanische Tagebuch von Jürgen Leskien ist wie ein solcher Ondjango.
Lassen Sie uns jetzt noch einen Augenblick in diesem Tagebuch von Jürgen Leskien blättern und schlagen wir die Seite vom 27. September auf: „Nun ist es so weit. Erst habe ich es geträumt. Dann habe ich es mir schreibend, als Vision, ins Zimmer geholt, anderen, als Traumbild, davon erzählt. Dann habe ich es gewollt, ganz heftig habe ich es gewollt und fand Freunde, die mich in dieser Sehnsucht sehr gut verstanden.
Was ich hatte tun können, hatte ich dafür getan. Nun ist es so weit. Eine Insel des Lichts und der Farbe, dieses Flughafengebäude inmitten der Spätsommernacht. Ich trete durch das Portal. Piktogramme fordern auf, sich auf den sachlichen Vorgang der Abfertigung zu konzentrieren. Der Einzelmensch wird auf den Begriff PASSAGIER reduziert.
Es geht darum, die richtigen Leute in die richtigen Flugzeuge zu sortieren. An einem Schalter reiche ich den Angestellten meine Papiere. Sie sehen nicht mich, sie sehen mein Passbild, und sie sehen mein Gesicht. Sie vergleichen und sind zufrieden. Weiter in der Reihe. Jetzt werde ich für die Statistik interessant und für den zweiten Flugzeugführer unserer Maschine, der mein Lebendgewicht zur Kenntnis nehmen muss, um es in der Summe des Startgewichts dem Kommandanten zu melden, es dem Navigator mitzuteilen, damit dieser aus der Tabelle die rechte Abhebegeschwindigkeit unseres Aeroplans herausliest. So unbedeutend ist der Einzelne also doch nicht, und es wäre vermessen, sich zu wünschen, dass die Hostessen gerade heute Engelsflügel tragen, frauliche Sanftheit zeigen, sich für mich ein besonderes Lächeln zurechtgelegt haben. Für mich, speziell für mich, der ich das erste Mal nach Afrika fliege.
Man fliegt hier andauernd irgendwohin. Das ist der Sinn der Einrichtung. Emotionale Beteiligung dieser jungen Frauen an meinem Unternehmen zu erwarten, jetzt nachts kurz vor eins, in einer Zeit also, in der man gewöhnlich noch oder wieder in den Armen eines Mannes liegt, in der man endlich seinen Dormutil-Schlaf gefunden hat, in der man, traum- und problemlos, in den neuen Tag hineingleitet - das ist wohl recht verstiegen.
Und doch gab es bei einer ein Blitzen im Auge, einen verzögerten Lidschlag. Die Schlanke war es, die mit den Bordkarten in der Hand. Im Blechgehäuse ein Gedränge wie in der Siebzehnuhrstraßenbahn. Die alten Füchse sitzen schon auf den richtigen Plätzen. Nicht vor dem Lärm der Triebwerke, hüte dich vor einem Platz über den Tragflächen, dann kannst du auch gleich mit der U-Bahn fahren ...
Dann klemme ich in meiner Sitzmulde, vor den Tragflächen sogar. Zwei Uhr fünfzehn - Start. Zuvor das Übliche. Begrüßung, Ermahnung, die Gurte. Dankeschön. Vier Triebwerke schieben das Silberschiff durch die Nacht. In ihm aufgereiht fast zweihundert Leute, die nach Algier wollen, nach Lagos oder Luanda. Zum anderen Kontinent, der zwischen dem Atlantischen und dem Indischen Ozean schwimmt.
Wieder die Frage, wie wird es sein, dieses Afrika, dieses Angola? Heiß sicherlich und groß, voller schwarzer, fremder Gesichter, mit Palmen, so zahlreich wie bei uns die Kiefern, und mit merkwürdigen Sitten und Gebräuchen. Angola, Land in revolutionärer Bewegung, unabhängig, mit den frischen Narben des Befreiungskampfes. Irgendwo in den Sitzreihen ein gutes Dutzend junger Männer, die wie ich nach Luanda wollen, von dort weiter nach Uige, in die nördliche Kaffeeprovinz.
Ich schaue mich um. Man döst vor sich hin und raucht. Die Aufforderung zum Anlegen der Gurte weckt mich. Algier. Landung nach drei Stunden Flugzeit. Afrika empfängt uns mit Regen und mit neunzehn Grad. Ich stecke fröstelnd die Nase in den Flugplatzwind und ziehe mich in den Transitraum zurück. An unserem Flugzeug wird gearbeitet. Zwischen den Wolken der umgekippte Mond, mit den Spitzen nach oben. Wenigstens er zeigt uns das Anderssein dieses Stückchens Erde an. Mit neunhundertfünfzig Kilometern in der Stunde hat es uns von Europa nach Afrika geschleudert. Italien haben wir in Wadennähe des Stiefels überflogen (ich denke mir, das war in weniger als fünfzehn Minuten erledigt), und Sardinien war nicht mehr als ein Ansteuerungspunkt in der Luftstraße zur nordafrikanischen Küste.
Ich mag dieses übergangslose Verpflanzen nicht. Ein von Menschen ausgedachter Apparat bringt uns in nicht sehr menschengemäße Zwänge. Ich aber möchte Veränderungen, wenn ich sie schon nicht selbst mit herbeiführen kann, wenigstens sehen, sie hören, sie schmecken, sie fühlen, um sie als solche zu begreifen. Vollendete Tatsachen wie dieser schmale Mond, das ist mir zu wenig, da fühle ich mich unterfordert, als Mensch nicht ernst genommen. Nur: Gegen wen renne ich an? Denkbar wäre eine Fahrt mit dem Ruderboot von Trieste nach Algier mit Landschaften steuerbords und backbords (sehen!), mit Wind (hören!), mit Gischt der Wellen im Gesicht (schmecken!) und mit dem Sonnenuntergang vor Cap Boutgaraun (fühlen!). Aber das würde dauern, und mir scheint, es gibt Wichtigeres. Kurz nach sieben Start. Die Sonne steht hoch am Himmel. Den Horizont zieren die ersten Gewitterwolken. Rote Maurersocken mit der Aufschrift INTERFLUG werden ausgegeben. (Wie weit käme man damit in der felsigen Nordsahara?) Ich tausche Schuhe gegen Füßlinge, ziehe die Beine an und schaue ins Wörterbuch.
Guten Tag - bom dia
guten Abend - boa noite
danke sehr - muito obrigado
bom dia - boa noite - muito obrigado.
Ärger über meine Unfähigkeit, mir den Mantel einer anderen Sprache kleidsam überzuziehen, es reicht immer nur zum Feigenblatt. Das nationalistische Trostpflästerchen lockt: Wer spricht schon PORTUGIESISCH?“
Ich wünsche also nochmals eine gute Reise und vielleicht sind heutzutage noch ganz andere Sprachen gefragt. Gefragt aber ist vor allem die Sprache der Menschlichkeit …“