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Sex und Politik, Politik und Sex sowie Einsamkeit und Tod in Paris 1793 – Sechs E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 08.09. 2017) Sex sells. Das gilt nicht erst seit den modernen Zeiten, sondern das galt schon im Mittelalter, in Barock und Rokoko und nicht zuletzt in der Zeit der Renaissance. Und Sex spielt auch in der Politik eine nicht zu unterschätzende Rolle, wenn es um Interessen und Intrigen, um Macht und Ohnmacht, um Aufstieg und Fall geht. Einen ebenso kenntnis- wie aufschlussreichen Blick gewissermaßen in die Schlafzimmer der Politik erlaubt der sechste der sechs Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de eine Woche lang (Freitag, 08.09. 17 – Freitag, 15.09.17) zu jeweils stark reduzierten Preisen zu haben sind.

 

Wer möchte nicht gern etwas von den Gespielinnen der französischen Könige erfahren, von Madame Pompadour und ihren „Kolleginnen“? Der sollte das Buch von Klaus Möckel über Frankreichs berühmteste Mätressen zur Hand nehmen und gemeinsam mit dem Autor durch die Geschichte dieses im wahrsten Sinne des Wortes reizvollen „Handwerks“ wandern. Aber Achtung: Wahrscheinlich wird der eine oder die andere bei der Lektüre von Klaus Möckel auch manche Vorurteile korrigieren müssen. Denn um das Spiel der Gespielinnen erfolgreich mitspielen zu können, da reichte nicht nur die äußere Schönheit, dazu brauchte es mehr … - Aber das kann Möckel viel besser erzählen.

 

Im Übrigen geht es auch in den anderen fünf Deals der Woche mehr oder weniger um Macht und Schicksal, manchmal aber auch um die Macht des Schicksals, um einen bekannten Operntitel zu zitieren. Und es geht um die eine oder andere Fehleinschätzung, wie sie zum Beispiel im jugendlichen Überschwang dem Helden des ersten Angebotes dieses Newsletters unterlaufen ist. Einer Fehleinschätzung mit Folgen, von denen die Schwierigkeit, ein paar auf Abzahlung gekaufte Sachen auch wirklich abzahlen zu können, noch die geringste ist …

 

Erstmals 1957 erschien im damaligen Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung Berlin „Der Spion von Akrotiri“ von Wolfgang Schreyer, dessen Handlung ein Jahr zuvor beginnt: August 1956: Der Reserveleutnant Roger Anderson aus Liverpool, im zivilen Leben Mitarbeiter der Zollfahndung, wird zur 16. Fallschirmjägerbrigade nach Zypern eingezogen. Dort bekommt er von der britischen Abwehr den Auftrag, den amerikanischen Archäologen Walpole, der seine Ausgrabungen nur in der Nähe von geheimen militärischen Objekten durchführt, zu überwachen. Die britische Abwehr fängt Funksprüche mit Details der französischen und britischen Truppentransporte nach Zypern auf, aber Anderson verliebt sich in eine junge und auffällig hübsche Journalistin, die sich nur allzu oft in der Nähe von Walpole aufhält. Im Morgengrauen des 5. November stiegen von Zyperns Flugplätzen in rascher Folge schwere Transportflugzeuge auf, mit Fallschirmjägern, automatischen Waffen und Munition randvoll beladen. Anderson und seine Kameraden sollten den Flugplatz Gamil nordwestlich von Port Said erobern. Nach dem hundertstündigen, pausenlosen Luftbombardement auf Ägypten ein Kinderspiel? Hier der Beginn des 1. Kapitels dieses spannenden Buches, in dem der Held selbst berichtet: „Die Geschichte begann für mich mit einer schlichten Drucksache, durch die der Reserveleutnant Roger Anderson, wohnhaft zu Liverpool, Lime Street 207, aufgefordert wurde, binnen achtundvierzig Stunden in die Garnison zurückzukehren, die er fünf Jahre zuvor, nach Ableistung seiner Wehrpflicht, verlassen hatte.

 

Es war ein schöner Nachmittag Anfang August. Ich kehrte vom Dienst aus dem Hafengelände heim, als mir diese Karte in die Hände fiel. Es wäre übertrieben zu behaupten, sie hätte mich damals erschreckt oder besonders unangenehme Empfindungen in mir wachgerufen. Ich drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger und dachte nur, dass es ein bisschen schäbig vom Mobilisierungsamt sei, statt eines Telegramms diesen simplen Vordruck zu schicken, der obendrein, wie ich gleich entdeckte, etliche Anachronismen enthielt. Man schrieb mir nämlich unter anderem darin vor, meine Lebensmittelkarten mitzubringen; obwohl jedes Kind wusste, dass es seit 1954 in Großbritannien keine Rationierung mehr gab. Die Armeebürokraten hatten einfach uralte Formulare benutzt. Sie schienen im Kriegsministerium auf der ganzen Linie zu sparen.

 

Ich packte dennoch schleunigst meine Siebensachen, sagte in der Dienststelle Bescheid und fand mich pünktlich vor der Garnison Aldershot ein, dem Stammquartier der 16. Fallschirmjägerbrigade; sie ist in dieser Gegend besser bekannt unter dem berüchtigten Namen „Rote Teufel“. Das war mein guter alter Haufen. Während ich das Kasernentor passierte, erinnerte ich mich all der tollen Streiche, die wir vor Jahren hier ausgeheckt hatten. Abgesehen von der Rekrutenzeit, die wohl in keiner Armee der Welt mit einer Badekur zu verwechseln ist, war mein Wehrdienst so erfreulich verlaufen, dass ich mich am Ende schriftlich bereit erklärt hatte, im Falle eines nationalen Notstandes, noch vor der eigentlichen Mobilmachung, freiwillig einzurücken. Möglich, dass dieser Entschluss in jugendlichem Überschwang gefasst worden war, unter dem Eindruck der wunderbaren Abschiedsfeier vielleicht – jedenfalls saß ich nun hier und harrte gespannt der Dinge, die kommen sollten. Erst sehr viel später wurde mir klar, dass ich mit jener Erklärung die größte Torheit meines Lebens begangen hatte.

 

Das erste, was kam, war die ordengeschmückte Brust meines alten Freundes Bill Shotover, der aktiv diente, sich in Kenia oder auf Malakka herumgeschlagen und es dabei zum Captain gebracht hatte. „Hallo, Roger“, sagte er und schlug mir seine mächtige Pranke auf die Schulter. „Recht so! Das Vaterland ruft...“ „Und seine besten Söhne eilen zu den Fahnen“, fügte ich bescheiden hinzu. „Für dich ist noch Platz in meiner Kompanie“, erklärte er, „rede heute Abend mit dem Colonel, das geht in Ordnung, alter Junge.“ Nachdem wir einen Drink genommen, Erinnerungen ausgetauscht und mehrmals bekundet hatten, dass der heutige Nachwuchs kaum noch das darstelle, was unser Jahrgang gewesen sei, ging Bill dazu über, mir die militärische Situation des Commonwealth zu erläutern. Das war seit jeher sein Steckenpferd. „Unsere Lage“, sagte er, „ist bekanntlich hoffnungslos, aber nicht ernst. Das würde sie erst, wenn es uns nicht gelänge, diesen Burschen Nasser unterzukriegen. Das Beispiel könnte Schule machen, und all die anderen Hunde, die jetzt noch den Schwanz einziehen, würden dann den Respekt verlieren. Falls du ab und zu eine Zeitung liest, Roger, weißt du ja, was er nun wieder angestellt hat. Aber mit der Kanalgeschichte kommt er nicht durch. Wir sind dabei, ihn und seine erbarmungswürdigen neunzigtausend Mann auf kaltem Wege mattzusetzen. Pass auf“, sagte er und trat zur Europakarte, die über der Musikbox an der Kasinowand hing. Sein breites Ledergesicht war fahlbraun mit einigen weißen Stellen, eine Folge von Pigmentstörungen, an denen er schon früher gelitten hatte; es glich im Farbton haargenau jenen Partien auf der Karte, die Gebirgszüge über dreitausend Meter darstellten, die hellen Flecke entsprachen den vergletscherten Gipfeln. „Im Roten Meer“, sagte Bill, „liegt unser Kreuzer 'Kenya', vor der levantinischen Küste der Kreuzer 'Jamaica'. In Malta ankert der Flugzeugträger 'Eagle', er hat mehrere Staffeln Jagdbomber an Bord. Hinzukommen sechzig 'Canberra'-Düsenbomber, die gestern nach Malta beordert worden sind. Hier in Jordanien steht das 10. Husarenregiment, verstärkt durch eine Kompanie des Infanterieregiments 'Middlesex', es ist mit 'Centurion'-Panzern ausgerüstet. In Libyen, nahe der ägyptischen Westgrenze, liegen die 10. Panzerdivision, das Infanterieregiment 'The King's Royal Rifle Corps' und das 3. Artillerieregiment 'Royal Horse Artillery', das während der Herbstmanöver 1951 unsere linke Flanke gedeckt hat. Na, wie gefällt dir das?“ – „Nicht schlecht“, sagte ich, „und wir?“ „Wir sind die Commonwealth-Feuerwehr“, antwortete er. „Uns wird man dorthin werfen, wo's brennt.“ „Ob sie den Reservisten wohl den Lohnausfall ersetzen?“, fragte ich. „Außerdem“, fuhr Bill fort, ohne auf meine Sorgen einzugehen, „ziehen wir Teile der 2. Infanteriedivision aus Westdeutschland heraus. Die NATO-Chefs jammern zwar, besonders, weil Frankreich es ebenso macht, aber Sir Anthony hat den Gruenther schon breitgeschlagen. Wie es heißt, haben wir neunzig Zivilflugzeuge beschlagnahmt, bringen damit sogar Leibgarde in den Nahen Osten...“

 

„Wer nämlich – wie ich – ein paar Sachen auf Abzahlung gekauft hat, der kommt durch die Einberufung ganz schön in Druck.“

 

Erstmals 2006 brachte die Schweriner Schriftstellerin Jutta Schlott im Wiesenburg Verlag Schweinfurt „Das Liebespaar vom Körnerplatz“ heraus: Ein getrenntes Paar trifft unvermutet aufeinander, eine Journalistin reist in den Irak, ein Mädchen sucht nach seiner Mutter, die es nie kennengelernt hat, eine junge Frau versucht, eine Bibliothek aufzubauen ... Jutta Schlott erzählt Alltagsgeschichten, die oft eine überraschende Wendung nehmen. Ohne Sensationshascherei, aber spannend und mit leisem Humor stehen diese Erzählungen vor dem politischen Hintergrund der neunziger Jahre bis in unsere Gegenwart. Der Titel einer dieser Erzählungen gleich am Anfang des Buches lautet „Etwas Warmes für die Nacht“: „Der Vertreter des Außenministeriums in Berlin versicherte den beiden Journalisten bei der Einweisung für die bevorstehende Auslandsreise, dass ihre Angehörigen innerhalb von vierundzwanzig Stunden Bescheid erhielten, wenn ihnen etwas zustoßen sollte. Im Gespräch mit dem Mittfünfziger und seiner jungen Kollegin unterstrich er mehrmals, dass sie bei Begegnungen mit Offiziellen und dortigen Kollegen jedweden Kommentar zur aktuellen politischen Situation zu unterlassen hätten; vielmehr sollten sie auf die konsequente Friedenspolitik des eigenen Staates verweisen.

 

Ich weiß Bescheid. Arnold hat mich angerufen, erklärte Veras Mutter statt einer Begrüßung am Telefon. Er macht sich auch Sorgen. Ihre Stimme hörte sich reserviert an. Arnold, Veras geschiedener Mann, arbeitete in der größeren der beiden zentralen Nachrichtenagenturen in Berlin. Seine ehemalige Schwiegermutter rief er öfter an als Vera. Es ärgerte die junge Frau, dass ihr Arnold mit der Neuigkeit zuvor gekommen war, gleichzeitig enthob es sie der Schwierigkeit, der Mutter ihre Reisepläne zu eröffnen. Mama, es ist mein Beruf! Die Mutter reagierte nicht; ihr Atmen war zu hören. Du weißt nicht, was du tust. Der Satz klang böse. Ich weiß, dass es nicht ganz ungefährlich ist, setzte Vera hinzu. Aber ich habe mich entschieden - und nicht leichtfertig. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Und was wird mit dem Jungen, fragte die Mutter schließlich. Ich dachte, dass du Albrecht ... Natürlich nehme ich ihn, entgegnete sie, aber man fährt nicht in ein Land, in dem geschossen wird.

 

Am Tag vor der Reise brachte Vera den fünfjährigen Sohn zu ihrer Mutter. Nur zweimal am Tag, morgens und abends, verkehrte der Bus von der Bezirksstadt in die kleine Gemeinde. Vera half Albrecht aus dem Bus, umarmte die Mutter und stieg wieder ein. Um den Jungen mach dir keine Sorgen, sagte sie und drückte das Kind an sich. Als Vera die Tür zuziehen wollte, hielt die Mutter von außen dagegen. Du weißt nicht was du tust, wiederholte sie zornig. Du hast kein Gewissen. Sie sprach leise, damit Albrecht ihre Worte nicht verstand, dann knallte sie die Tür vor der Tochter ins Schloss. Vera sank erschöpft auf einen Sitz im leeren Bus. Zu Hause zog sie sich die Schuhe aus und sah in den Spiegel im Korridor. Er warf das Bild einer nachlässig geschminkten jungen Frau von Mitte dreißig zurück. Müde um die Augen, stellte Vera fest. Wird Zeit, dass du ins Bett kommst. In ihrem Zimmer schmiss sie das Bündel Kleider vom Sessel auf die Liege. Sie stellte in der Küche die Kaffeemaschine an und kontrollierte den Zettel, auf der sie die notwendigen Besorgungen notiert hatte. Bis auf zwei Posten war auf der Liste alles erledigt und durchgestrichen. Nur die Punkte: Packen und Schlüssel zu Frau M.

 

Aus den Nachbarwohnungen drangen Geräusche. Stimmen. Klappern von Geschirr, Fernsehton - der vertraute abendliche Klangteppich des großen Mietshauses. Vera schaltete das Radio an, suchte nach klassischer Musik, fand nur ein Orgelkonzert, das ihr missfiel, und drückte die Aus-Taste. Als sie das Fenster öffnete, drückte der Wind eine Bö herein. Regentropfen verteilten sich auf der Kommode und den Dielenbrettern. Unschlüssig stand sie vor dem Kleiderberg. Alle Sachen erschienen fremd, nicht zu ihrer Person gehörig. Zwischen ihren Blusen fand sich ein Nicki von Albrecht. Du brauchst mir gar nichts mitzubringen, hatte er beim Abschied gesagt. Pflück mir nur ein paar Bananen. Echte Bananen aus Afrika.

 

Vera seufzte tief. Erst mal Kaffee trinken, beschloss sie. Der Kühlschrank war leer geräumt, das Sahnekännchen gab noch ein paar dickflüssige Tropfen her. Sie zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief ein. Du solltest dich freuen, redete sie sich zu. Du darfst raus aus diesem ummauerten Land. Du verlässt Europa. Ein anderer Kontinent wartet auf dich. Wer kriegt schon so eine Reise geschenkt! Es klingelte. Im Hausflur stand der Telegrammbote; ein junger Mann, der ihr geduldig zeigte, an welcher Stelle auf dem Formular sie den Empfang zu quittieren hatte. Ich könnte es ungeöffnet liegen lassen, dachte Vera auf dem Weg in die Küche. Gleich zehn. Um diese Zeit ist die Haustür meist schon abgeschlossen. Eigentlich bin ich nicht mehr da. Die Nachrichten aus diesem Land gehen mich nichts mehr an. Mechanisch riss sie den Umschlag auf, las mehrmals den Text: Sibylle gestern friedlich verstorben - Termin für Beisetzung folgt - Fam. Schubert. Ihr Verstand weigerte sich, den Inhalt anzunehmen.

 

Aber doch nicht Billy, sagte sie laut. Sie tappte in den Korridor, stellte sich vor den Spiegel und wiederholte: Aber doch nicht Billy! Ihr Gegenüber starrte sie mit erschrockenen Augen an. Durch die offene Balkontür taumelte ein Nachtfalter ins Zimmer. Vera verfolgte seinen Irrflug um die Lampe. Als sie wieder auf die Uhr sah, war es kurz vor elf. Einen Moment lang wunderte sie sich, dass sie in der Küche saß. Wahrscheinlich funktioniert das Gehirn nicht richtig, registrierte sie träge, das Erinnerungsvermögen setzt aus. Sie holte den Brief der Mutter, den sie ihr nach dem Telefonat geschrieben hatte, vom Schreibtisch ... Dein Leben habe ich Dir nicht einfach geschenkt, ich habe es Dir erkämpft. Ein halbes Jahr habe ich im Krankenhaus gelegen und alles ertragen, damit Du lebst. Aber Du bist bereit, Dein Leben wegzuwerfen. Dort ist Krieg. Du weißt nicht, was Krieg bedeutet. Ich weiß es, ich habe ihn am eigenen Leib erfahren. Du hast noch keine Bombe fallen sehen. Neben Dir ist noch kein Mensch krepiert. Du weißt nicht, was Du tust. Du denkst nicht an Dein Kind ...

 

Warum willst du mich kränken, Mama, dachte Vera. Wer hat mir beigebracht, was Verantwortung ist? Es ist meine Pflicht, zu sagen, was geschieht. Und ich habe mir die Fähigkeit erworben, hinter die Dinge zu sehen. Ich bin nicht eitel - ich weiß, was ich kann. Ich muss Bericht erstatten - auch von diesem Land im Krieg. Ich muss.“

 

Erstmals 1981 ließ Erik Neutsch seine Erzählung „Forster in Paris“ Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale) drucken: Ein Mann, einsam im Paris des Jahres 1793. Verlassen von Freunden, verlassen vor allem von seiner Frau Therese, die ihm einen anderen vorgezogen hat, getrennt von den geliebten Kindern, ohne Einkünfte, von tödlicher Krankheit gezeichnet, der Mann Georg Forster, Weltreisender, Naturforscher, Deputierter der Mainzer Republik im Pariser Konvent. Erik Neutsch zeichnet die letzten Lebensmonate dieses Revolutionärs und in ihnen zugleich die Geschichte dieser ereignisreichen Biografie. Aus Briefen, Dokumenten, zeitgenössischen Aussagen wird deutlich, wie da ein Mann das einmal als richtig Erkannte auch in schwierigen Zeiten nicht aufgibt, wie er nicht in die Leiden seiner persönlichen Konflikte versinkt, sondern mit dem Blick auf seine und die künftigen Feinde der Revolution noch auf dem Sterbebett schreibt: Paris ist immer unsere Karte, und ihr habt verloren!

 

Und so beginnt das Zweite Kapitel dieser Erzählung: „Tausend und aber tausend Familien können zugrunde gehen, aber das große Werk geht nicht mehr zurück.

 

27. 11.

Die Rue des Moulins, wo Forster wohnte, lag in einem von mehreren engen und vier- bis fünfstöckig hohen Straßen zerklüfteten Karree im Zentrum der Stadt, zwischen dem ehemaligen Jakobinerkloster, dem Sitz des nach ihm benannten revolutionären Klubs, und dem Palais-Royal, das jetzt den Namen der Gleichheit führte: Égalité, mit seinem von Kolonnaden und zahlreichen Läden umbauten Garten. Von seinem Quartier, einem einzigen Zimmer im Haus der Holländischen Patrioten, mit halbkreisförmigen Fenstern zum Hof hinaus, waren es nur zehn Minuten bis zu den Tuilerien, eine Viertelstunde Fußweg vielleicht bis zur Place de la Révolution.

 

Hier stand die Guillotine, jedenfalls jene, die zum Inbegriff ihrer Gattung geworden war, da sie bisher besonders an berühmteren Köpfen die Todesurteile vollstreckt hatte: an Ludwig XVI. und Marie Antoinette, Custine und dem Herzog von Orléans, an den Girondisten und Madame Roland. Vor nicht einmal einem Monat war auch Lux hier enthauptet worden. Forster hatte die Nachricht in Pontarlier erhalten. Den ganzen Tag hatte sie ihm verdorben, und er war sich dabei erst recht der furchtbaren Einsamkeit bewußt geworden, die ihn von aller Welt abzuschnüren drohte. Die Freunde an seiner Seite verließen ihn. Die Deutschen haßten ihn ohnehin. Generale, Aristokraten, fainéants, jene gelehrten und geschäftigen Müßiggänger von Berlin bis an den Rhein, die einen Mann nicht begreifen konnten, der in dieser Zeit auch handelte. Sie finden mich verabscheuungswert, dachte er, da ich nach den Grundsätzen wirklich zu Werke gegangen bin, die sie auf meinem Papier, in meinen Schriften ihres Beifalls noch würdigten. Sein Vater hatte ihn verflucht, Heyne sich von ihm abgewandt, und nun verriet ihn auch seine Familie - nein, aber Therese, mit der er nicht leben, ohne die er jedoch allenfalls sich nur noch verzehren konnte. Alles ist zerrüttet, alles hin... Ich kann nicht mehr die Ruhe finden, die zur Arbeit unentbehrlich ist. Ich kann mich mit der toten Einsamkeit nicht aussöhnen und verachte sie doch noch weniger als die traurige Gesellschaft der Menschen.

 

Noch gestern abend hatte er Salbe auf Flanell gestrichen und seine Brust damit umwickelt. Er schlief gut, doch es mußten ihn wirre Träume gepeinigt haben. Als er erwachte, war er in Schweiß gebadet. Aber - er spürte Linderung. Der rheumatische Schmerz schien sich zu legen und sein Husten abzuklingen. Sein erster Gedanke galt wieder Lux, Adam Lux, der mit ihm als Deputierter gekommen war, um auf Beschluß des Rheinisch-deutschen Konvents Mainz und Umgebung der Republik der freien Franken anzugliedern. Er wollte Gewißheit haben über die genaueren Umstände seiner Hinrichtung. Vielleicht träfe er einen seiner hiesigen Bekannten, der Augenzeuge gewesen war, Maliszewski, Dorsch, Kemer...

 

Sonderbar, daß ihm erst als zweites sein Geburtstag einfiel. 27. November. Neununddreißig wurde er alt an diesem grauen Morgen.“

 

Vier Jahre vor der historischen Erzählung von Erik Neutsch über Georg Forster in Paris veröffentlichte Elke Nagel unter dem Name Elke Willkomm im Verlag Neues Leben Berlin ihren sehr gut recherchierten Historischen Roman „Das Mirakel von Bernsdorf“: Sie erkennen ihn nicht auf den ersten Blick, die von Bernsdorfs, als Michel Marten, Offizier der Armee Bonapartes, am Weihnachtsabend 1807 ihren Salon betritt. Vor Jahren war er der Gefährte der Bernsdorfkinder, er, der Enkel des Dorfpfarrers und illegitime Sohn des Barons. Er entfloh jedoch der Perspektive, Dorfschulmeister zu werden, und schlug sich auf den Spuren seines „eigentlichen“ Vaters Heinrich Marten an der Seite der französischen Jakobiner durch. Er erlebte alle Höhen und Tiefen der Revolution, folgte Heinrich Marten aber nicht unter die Anhänger Babeufs, weil er ahnte, dass sich die Hoffnung auf das Bonheur Commune - das Glück des Volkes - nicht erfüllen würde. Er leidet unter seiner Inkonsequenz, vor allem, als er in seiner Heimat alte Freunde wiedertrifft, darunter Henriette von Bülow, die er liebte und die sich wie er von der Forderung nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit begeistern ließ. Sie, jetzt die Frau eines geachteten preußischen Beamten, sieht durch Michels Erscheinen ihre Hoffnung auf Veränderungen neu belebt. Michel gewinnt das Vertrauen seiner Landsleute, als er bereit ist, für ihre Interessen gegenüber dem Baron einzustehen. Doch an der Spitze der Bauernerhebung macht er sich eines Vergehens gegen Befehle seines Generals schuldig, und alle wissen, dass nur ein Wunder ihn vor dem Tod retten kann.

 

Der erste Blick in dieses Buch fällt auf einen „Vorspann“ äußerst bemerkens- und lesenswerten Inhalts:

„Eintragung im Kirchenbuch zu Bernsdorf (Königreich Preußen) vom 27. 12. 1807:

Ein Wunder ließ Gott geschehen in einer wunderarmen Zeit. Am heutigen 27. Dezember des Jahres 1807 geschah an uns allen und besonders an dem hierselbst anno 1773 geborenen Michael Jakob Mathias Marten ein Wunder Gottes.

 

Besagter Marten, der auf Befehl der französischen Militärbehörde am heutigen Abend acht Uhr durch Erschießen vom Leben zum Tode gebracht werden sollte, wurde am heutigen Vormittag, während die Gemeinde vollzählig in der Kirche versammelt war und von Gott ein Wunder erflehte, von einem Engel gen Himmel getragen, derart, dass in der fest verschlossenen Kammer nichts von ihm zurückblieb als seine Kleider und Stiefel, die in der gleichen Anordnung, wie er sie getragen, auf dem Strohsack liegend vorgefunden wurden.

 

Der Herr hat uns ein Zeichen gegeben, ein sichtbares Zeichen. Wir werden uns seiner Gnade würdig erweisen. Amen.

Pfarrer zu Bernsdorf, Emanuel Kienast“

 

Es folgt das 1. Kapitel:

„Die Glocke. Hörst du, Jean-Pierre? Das ist sie. Etwas zu blechern, ich weiß. Aber sie ist es, meine Glocke, meine Kirche - was soll das, Jean-Pierre, Bruderherz, ich bin aufgeregt wie selten, ich rede, scheint mir, deutsch und hab doch all die Jahre nur französisch gesprochen, sogar gedacht ... Nein, dies ist nicht Bernsdorf, sondern Alt-Grödern. Gehört aber zum Besitz derer von Bernsdorf. Komm schneller, Bruderherz. Dieser Hügel nur trennt Alt-Grödern von Bernsdorf. Von da oben kann ich dir zeigen, was ich dir schon oft beschrieben habe, komm!

 

Weißt du, was ich mir jetzt vorstelle? Michel Marten, der einst aus Bernsdorf fortlief, heimlich und bei Nacht, kommt als Offizier der Grande Armee zurück, und - da lässt der gnädige Herr von Bernsdorf die Kirchenglocken ziehen. Gut, was? Warum die Glocke läutet? Es ist doch Weihnachtsabend, Bruderherz. Jetzt kommen sie dort, hinter jenem Hügel, von der Christvesper. Sie gehen in ihre Katen. Und essen. Etwas Besonderes, lange Aufgespartes. Manchmal reicht’s sogar zum Sattwerden. Und der Küster geht mit den Schulkindern umsingen, durchs Dorf, zum Schloss ... Mein Gott, Jean-Pierre, wie lange ist das her, dass ich dort die Glocke läutete. Den Blasebalg trat. Umsingen ging. Die Orgel spielte ...

 

Welcher Teufel hat mich nur geritten, heute mit dir hierher zu kommen? Heimweh? Ja, da hast du wohl recht. Denn dieser Leutnant Bertrand, der dort letzte Woche ertrunken ist – ob verunglückt, ob nicht verunglückt -, ich sage dir, Jean-Pierre, das interessiert mich nicht im geringsten. Du musst es aufklären, deine Sache - bitte schön. Und ich, davon habe ich unseren General überzeugt, ich muss dir – als Ortskundiger, nicht wahr? – unbedingt helfen... Zum Teufel, worauf habe ich mich eingelassen! Hab nicht bedacht, dass diese Glocke bimmeln wird, das ist es. Was ist schon Besonderes daran, warum erregt es mich ... Aber recht kräftig wird dort am Strang gezogen, scheint mir ...

 

So, mon ami, nun müssen wir anhalten. Da. Das ist Bernsdorf. Siehst du - um die Kirche herum das Dorf. Pfarrhaus, Schulhaus. Der Teich. Die Trauerweiden. Die Tagelöhnerkaten. Fast keine Bauernhöfe, nein, Gutsdorf eines Barons, verstehst du nicht? Leibeigene, ein paar Büdner, vier Bauern, und auch die sind arme Schlucker. Wer weiß, ob’s noch vier sind. Und dort der Park, siehst du? Und das Schloss. Hofeinfahrt, hintere Seite, dem Dorf zugekehrt: preußischer Edelmannsstil. Dagegen die Vorderfront, Parkseite: Kleinsanssouci. Mit Terrassen, Freitreppe, Orangerie, Puttenskulpturen. Dann die gestutzten Bäume, die abgezirkelten Wege. Aber der untere Teil des Parks, bis hinunter zum See - das ist ein Paradies, Jean-Pierre! So verwildert! Und der See ... Natürlich ist er für das Dorf verboten. Aber denk nicht, wir hätten dort nicht gebadet, schwimmen gelernt, Fische gefangen sogar!

 

Jean-Pierre Carnette, Offizier der Grande Armee, nickte und unterbrach den Redestrom des Freundes nicht. Er wusste, der redete sich das jahrelang aufgestaute Heimweh von der Seele, und er, Jean-Pierre, vergaß beim Zuhören das eigene Heimweh nach der Tischlerei des Vaters in Paris, nach dem Geruch frischer Bügelwäsche in Mutters Plättstube. Denn er sah nun den Freund, ein halb nacktes, schmutziges Kerlchen von acht Jahren, mager und behänd, mit dieser zu großen Nase und mit dem Helm aus strähnigen, ganz glatten, weißblonden Haaren. Anscheinend ausgerissen ist dieser Bursche, denn er sichert wie ein flüchtiges Wild, bevor er sich aus den schützenden Zweigen der Trauerweide herausschiebt und hastig auf das Fliedergebüsch an der Schlossmauer zuläuft. Von dort aus späht er noch einmal zur Schule zurück, und da kein Verfolger in Sicht ist, geht er langsam und ohne besondere Vorsicht an der hohen Schlossmauer entlang zum See hinunter. Denn wenn Küster Jakob Marten, der Großvater, bis jetzt noch nicht gemerkt hat, dass er aus dem Fenster geklettert und „in die Welt“ gelaufen ist, dann ist er wieder einmal so sehr in seine Lektüre vertieft: - in Lessing oder Rousseau oder Forster oder Herder -, dass er das Verschwinden des Enkels frühestens gegen Mittag bemerken wird. Und petzen - das tun die übrigen Schüler nicht. Obwohl sie Michel Marten oft hänseln, wegen dieser großen Nase. Aber nicht nur ihn, ähnliche Nasen sind in Bernsdorf nicht selten. Zum Verpetzen ist das kein Grund.

 

Die Schlossmauer ist hoch, unendlich hoch für einen kleinen Jungen. Lang ist sie auch, aber keinesfalls unendlich. Wo sie aufhört, fängt der See an, der verbotene. Er ist hier schwer zugänglich: dichtes Gestrüpp, Sumpf, Schilf. Doch das stört einen eigensinnigen Michel Marten ganz und gar nicht. Er kauert schon nach kurzer Zeit auf einem ins Wasser gestürzten Baum im Wald aus Schilf und ist am Ziel seiner Wünsche: Durch den schwankenden grünen Vorhang kann er spähen, ungesehen, und sein Blick umfasst einen Teil des Sees und die breite, schilffreie Badestelle der Herrschaftskinder, derer von Bernsdorf, auch den Uferstreifen davor, planiert, geharkt sogar. Nichts rührt sich heute hinter den hohen Parkbäumen. Er verbirgt seine Enttäuschung vor sich selbst. Bin ich denn hier, um die aus dem Schloss zu sehen? Wollte doch zum See, heraus aus der langweiligen, dunklen Schulstube ...

 

In dem Ofenwinkel dieser Schulstube sitzt er schon seit reichlich vier Jahren, ohne bis vor einem Jahr eigentlich Schüler zu sein, während der Großvater sich mit den fast dreißig Kindern zwischen sieben und zwölf Jahren abplagt, sich wenig um den Enkel in seinem Winkel kümmert, oft auch nicht um die anderen Kinder, denn er hat immer zu lesen oder Noten zu schreiben ... Der Enkel hat gelernt, was es hier zu lernen gibt, er bekämpft die Langeweile. Nach der Schule, abends, sonntags - da gibt es freilich noch mehr zu lernen und anderes, weit Schöneres als Bibelverse und Gesangbuchstrophen. Da kann man dem Großvater mit einhundertsiebenundneunzig Fragen kommen, und er wird genau ebenso viele Antworten wissen, wird von Forsters Weltreisen erzählen und von Lessings Schauspiel „Nathan der Weise“ und immer wieder von den wunderschönen Kantaten des Johann Sebastian Bach, die er in Leipzig gehört hat, und nicht nur gehört - mitgesungen hat er, der Großvater Marten, als Thomasschüler ...

 

Michel Marten, auf seinem Baumstamm, baumelt mit den Beinen im seichten Wasser, blinzelt durch Schilfhalme und Sonnenwogen auf den See, zu den Wildenten und Wasserhühnern hin, die sich um ihn nicht kümmern, verfolgt mit den Augen eine grünlich glitzernde Libelle. Und gar nicht lange dauert es, da spielt er in Gedanken Cembalo, alle Etüden, Präludien und Toccaten, die bisher auf seinem Programm stehen. Und dann, kühn geworden, berauscht von der nur ihm hörbaren Musik, versucht er sich an der Orgel, und mit Stücken gar, die er noch keineswegs beherrscht, die er noch nicht einmal probieren durfte, aber er hat sie gehört, oft, wenn der Großvater sie spielte, und hat ihm auf die Finger gesehen. Obwohl er eigentlich den Blasebalg zu treten hat, wenn Großvater übt. Er tut das auch, nicht sehr gern, aber er tut’s. Wenn irgend möglich, sucht er sich aber seinen Freund, den August Lemke, schenkt ihm eine Glasperle oder einen Nagel oder ein Stück Schnur; August betrachtet den Lohn kritisch, nickt zufrieden und steigt hinter Michel zur Orgel hinauf. Und für Michel Marten beginnt ein Fest. Er steht neben dem Großvater, sieht abwechselnd auf dessen Hände und Füße und auf die Noten, steht da mit halb offenem Mund und ineinander verkrampften Händen, saugt die Musik in sich ein und bekommt nie genug von ihr; es kommt vor, dass er am ganzen Körper zu zittern beginnt, ohne es zu merken, dass er, wenn die Orgel schweigt, in krampfartiges Schluchzen ausbricht und lange nicht zu beruhigen ist. Fantasie und Fuge g-Moll, Johann Sebastian Bach. Was ist dir, Junge, sagt Jakob Marten erschrocken. Nichts, Großvater. Darf ich’s probieren? Er darf nicht. Seit einem Jahr spielt er erst auf der Orgel. Da soll man noch nicht nach den Sternen greifen.“

 

Bereits 1961 stand der Roman „Kreuzwege“ von Walter Kaufmann im Verlagsprospekt des Verlags Neues Leben Berlin: Noch vor Sonnenaufgang verließ Ron das Haus. Schnell fuhr er die Hauptstraße hinunter aus der Stadt. Die Maschine lief gut in der kühlen Morgenluft, nach wenigen Minuten lag der Gipsengel am Eingang des Parks weit hinter ihm. Nach einem nächtlichen Zwischenfall hat er seine Arbeit verloren und nutzt die Gelegenheit, seinem Traum, Seemann zu werden, näher zu kommen. Schon nach zwei Tagen in der Stadt scheint Ron Glück zu haben – ein Dach über dem Kopf und einen festen Arbeitsplatz als Hilfsmonteur bei Speedwell Motors in Melbourne. Allerdings hat er in der Garage viel zu tun, und das Geschäft beruht offensichtlich auf Betrügereien. Aber dann fliegt Ron wieder raus und heuert auf der „Epoch“ als Kohlentrimmer an. Und dann lernt der Seemann Ron Prentice Katharine Miles kennen, die aus ganz anderen Verhältnissen stammt als er. Die Tochter eines Architekten verliebt sich in diesen jungen Seemann. „Und jetzt hatte dieser Fremde, der ihr gar nicht mehr fremd war, ihren Weg gekreuzt, und sie verlangte nach seiner Umarmung mit einer Unmittelbarkeit, die sie vorher nie gekannt hatte. Durch ihn könnte sie sich von ihrer Vergangenheit befreien. Dass dieser Seemann da war, heute Abend und hier, war für sie wie klares Wasser aus einem frischen Quell.“ Was wird daraus werden?

 

Und so beginnen der Roman und damit auch die Geschichte von Ron: „Ron Prentice stieß die Pendeltür von Kellys Kneipe auf, lehnte sich gegen den Rahmen, um sie offenzuhalten, und blickte die Straße hinunter in das Halbdunkel. Ein Hund trottete durch den spärlichen Verkehr der australischen Kleinstadt von einem Rinnstein zum anderen. Das blasse Licht der Straßenlaterne vor Haybrooks Mechanic's Institute fiel auf eine Gruppe von Fremden, die sich an einem Lastwagen zu schaffen machten. Nachdem Ron sie eine Weile beobachtet hatte, spie er das zerkaute Ende eines Streichholzes aus, hob sein Bierglas und trank es leer. Dann ging er an die Theke der verqualmten Gaststube zurück und wandte sich an Ed Cox, seinen Boss, einen bulligen Farmer, dessen rotes Gesicht vom Trinken glühte. „Das werden sie sein“, sagte er kurz. „Zeit, dass du die Jungs zusammenholst“, antwortete Cox. Ron schob sein leeres Glas über die Theke und winkte dem Wirt. „Gib ihm eins auf meine Rechnung.“ „Danke“, erwiderte Ron kühl. „Dein Wohl.“ Der Farmer trank ihm zu. „Und jetzt hol die Jungs.“ „Die werden schon aufkreuzen.“ „Wir brauchen sie sofort“, sagte Ed Cox hartnäckig, doch Ron drehte ihm den Rücken zu.

 

Jemand boxte ihn in die Seite. Ron blickte auf und sah in das grobe Gesicht von AI Cox. Eds ältester Sohn war ein breiter, muskulöser Kerl. „Sei kein Frosch“, sagte er. Ron nahm seinen Fuß von der Messingstange und stemmte sich von der Theke weg. Die Haut über seinen Backenknochen straffte sich. „Wer ist ein Frosch?“, fragte er scharf. Als Mund verzog sich zu einem trägen Grinsen. „Hast du nicht verstanden?“, sagte er, die Worte dehnend. „Der Alte will, dass du die Jungs holst.“ „Habt ihr Angst, oder was?“, fragte Ron. „Kratzt uns überhaupt nicht“, sagte AI und streckte lachend seine starken Hände vor. „Wundere mich nur über dich.“ „Was soll das?“ „Mach kein' Ärger“, sagte AI und legte Ron die Hand auf die Schulter. „Hol die Jungs her, und damit basta!“ Ron schüttelte die Hand ab, er sah zu seinem Boss hinüber, dann wieder auf AI, der jetzt nicht mehr griente. „Okay“, sagte er schließlich, schob sein halb geleertes Glas beiseite und ging zur Tür, die heftig hin und her schwang, als er nach draußen trat. Jedes Mal, wenn sie nach außen aufging, fiel ein Lichtstreifen auf die Straße, und die Chromteile eines Motorrades am Rinnstein glänzten auf. Ron setzte sich auf die Maschine, zog seine Handschuhe an, schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch und trat auf den Starter. Der Motor heulte auf, als er eine Kurve nahm, der Scheinwerferkegel sprang über die Fassaden niedriger Häuser, der Bank, des Postamts, des Warenhauses und beleuchtete, als Ron am Mechanic's Institute vorüberfuhr, die Gesichter von Neugierigen, die um den Lastwagen herumstanden, auf dessen Dach ein Lautsprecher und ein kleiner beweglicher Scheinwerfer montiert waren.

 

Hinten auf dem Wagen sah Ron einen Mann, der ein Mikrofon an den Mund hielt. Der Wind trug abgerissene Laute an sein Ohr: „Sprechprobe - eins - zwei - drei!“ Ron raste weiter in eine ungepflasterte Seitenstraße hinter dem Institut. Das Hinterrad wirbelte eine in der Dunkelheit kaum sichtbare Staubwolke auf. Drei seiner Freunde hatte Ron schließlich beisammen: Snowy Matters, Jim Kennedy und Bruiser Coles, die einander sehr ähnlich sahen in ihren Lederjacken und den engen Jeans. Als sie mit ihren Motorrädern Kellys Kneipe erreichten, wartete AI Cox schon auf dem Bürgersteig. Der alte Armeemantel, den er trug, ließ ihn noch massiger erscheinen. Unter dem breitkrempigen Hut war sein Gesicht trotz des Lichts der vier Scheinwerfer nicht zu erkennen. Der Stiel einer Spitzhacke, den er in der Faust schwang, warf unruhige Schatten gegen die Mauer der Kneipe. Durch den Lärm der laufenden Motoren vernahm Ron die erregte Stimme von Franklin, dem Grundstücksmakler, und die Erwiderungen von Charles D. Armstrong, dem Bankier, und durch die offene Kneipentür sah er seinen Boss einer Gruppe knüppelbewaffneter Männer Anweisungen erteilen. Der Anblick verdross ihn und er horchte mürrisch auf, als AI sagte: „Ihr müsst mit euren Motorrädern so'n Spektakel machen, dass keiner ein Wort von den Commos versteht.“ „Was meint ihr dazu, Jungs?“, fragte Ron die anderen. „Ihr wollt doch keine Roten in der Stadt, wie?“, mischte sich AI ein. „Wir werden Krach machen – okay“, sagte Ron. „Aber hör zu ...“ AI grinste. „Sie werden's überleben.“

 

Sekunden später knatterten die vier an dem Lastwagen vorbei, von dessen Ladefläche aus der Mann mit dem Mikrofon zu einer ständig wachsenden Menge sprach. Er war nicht groß, sah aber kräftig aus, und seine Stimme drang klar durch: „Wir von der Seeleutegewerkschaft sind nach Haybrook gekommen und wollen euch aufrufen, mit uns gegen die Pläne von Menzies zu protestieren, die Kommunistische Partei ...“ „Raus, ihr Kommunisten!“, schrie Bruiser Coles gellend, als sie vorüberrasten, und drückte unentwegt auf die Hupe. Noch vor dem Polizeirevier wendeten sie und brausten zurück, dabei gaben sie ruckartig Gas, um den Auspufflärm ihrer Maschinen noch zu steigern. Als sie dicht bei den Versammelten anhielten, konnten sie sehen, wie die Seeleute die Hände ineinander verschränkten und eine Schutzkette vor dem Lastwagen bildeten. Diese Commos haben Mut, das muss man ihnen lassen, dachte Ron, während noch immer die Lautsprecherstimme über dem Lärm zu hören war. „Heute versucht Menzies dasselbe, was vor achtzehn Jahren Hitler versucht hat: Er will die Kommunistische Partei verbieten. Es hat unermessliche Leiden gekostet, die Nazis zu zerschlagen. Können wir zulassen, dass jetzt, neunzehnhunderteinundfünfzig, Hitlers Geist Australien vergiftet?“

 

Der Mann mit dem Mikrofon trat einen Schritt zur Seite und richtete den Kegel des Scheinwerfers über die Köpfe der Versammelten hinweg in die Dunkelheit, direkt auf Ron. Ehe sich Rons Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, hörte er neben sich eine Stimme: „Stell mal deine Mühle ab, du!“ Ron wandte sich um und musterte den untersetzten kraushaarigen Burschen mit der gebrochenen Nase. „Wer bist du überhaupt?“ „Nur 'n Schiffsheizer, Kumpel“, antwortete der andere. „Bist aber ziemlich weit vom Hafen weg.“ „Nicht deine Sorge“, sagte der Seemann. „Also, was ist: Stellst du das Ding da ab?“ „He du, nimm dich in acht!“, drohte Snowy Matters. Vom Lastwagen her rief jemand dem Seemann eine Warnung zu. Im selben Augenblick wurde er herumgeschleudert, weil Ron Gas gab und sein Motorrad vorwärts schießen ließ. Vom Lenker getroffen, taumelte der Seemann, fing sich wieder und drängte sich durch die Menge. „Australier -Rufen euch auf...“, tönte es in Satzfetzen aus dem Lautsprecher, dann ein Krachen, das die folgende kurze Stille noch unterstrich.“

 

Nicht um Klassenkampf, Kommunisten und Gewerkschafter geht es in dem erstmals im Jahre 2000 im Verlag Neues Leben Berlin veröffentlichten Buch von Klaus Möckel, sondern um – „Frankreichs berühmteste Mätressen“, so sein weiter oben bereits erwähnter Untertitel. Der Haupttitel heißt „Die Gespielinnen des Königs“: „Nun war es wirklich geschehen, sie war die Hure des Thronfolgers. Die Höflinge würden es zwar nicht wagen, ihr das ins Gesicht zu sagen, aber denken würden sie es.“ So beginnt der Autor seine Erzählung über Diane de Poitiers, die Mätresse des späteren Königs Heinrich II., die noch heute als eine der schönsten Frauen in Frankreichs Geschichte gilt. Selbstbewusst und geschäftstüchtig, brachte sie es zu großem Reichtum und fast unbeschränkter Macht. Doch auch die anderen Damen in diesem Band, von denen die berühmteste Madame Pompadour ist, wussten ihre Fähigkeiten im Bett und am Hof zu nutzen. Von Glanz umgeben, meist intelligent und gerissen, umgarnten die Entragues, die Montespan, die Du Barry ihren Herrscher, um ihn dann am Gängelband zu führen. Freilich war ihr Weg gefährlich. Von so manchem Höfling angefeindet und von Hinterhältigkeit bedroht, durften sie nie die Gunst des Geliebten verlieren - das hätte den Untergang bedeutet.

 

Dieses Buch ist ein Sittengemälde, das vier Jahrhunderte französischer Geschichte darbietet. Spannend bis ins Detail, abenteuerlich und voller Witz führt es dem Leser eine Welt vor Augen, die ihn mit ihren bis zum Mord reichenden Intrigen, mit ihrer List und Gewalt, aber auch mit ihrem Charme und ihrer Lebhaftigkeit von Anfang bis Ende in den Bann schlägt. Entsprechend positiv lesen sich auch Rezensionen wie zum Beispiel diese aus „L“, dem in Cottbus herausgegebenen Magazin für reife Menschen: „Als Liebhaber guter historischer Romane kann ich von diesem Buch ... nur schwärmen. Klaus Möckel, Romanist, Lyriker und Krimiautor, nutzt alle diese 'Qualifikationen' für prächtige Romane im Stenogramm“. Und statt einer der vielen Biographien der Gespielinnen des Königs begnügen wir uns diesmal mit dem, allerdings recht aufschlussreichen Vorwort:

 

„Ist von Gespielinnen des Königs die Rede, denkt man vielleicht zuerst an leicht bekleidete Schönheiten, die sich auf samtenem Pfuhl ihrem leidenschaftlich entflammten Herrscher hingeben. Oder man stellt sich elegante Damen in raschelnden Seidenkleidern vor, bereit zum stürmischen Tête-à-tête mit der entzückten Majestät; Bilder, die sich nicht von ungefähr ergeben: Im Bett errangen Mätressen aller Zeiten ihre nachhaltigsten Siege.

 

Doch die Rolle der Schönen, die meist aus dem hohen Adel stammten oder zumindest in diesen Stand erhoben wurden, erschöpfte sich keinesfalls im Liebesdienst. Wohl widmeten sie sich dieser Aufgabe mit Leidenschaft, zumal sie zum Dank dafür Gold, Edelsteine, kostbare Gewänder, Ländereien und prächtige Schlösser erhielten. Sie glänzten aber auch in anderen Bereichen. Sie besaßen Bildung, brillierten mit Worten und mit ihrem gesamten Auftreten, verfügten über natürliche Eleganz. Bei Hof wurden sie zu wichtigen Persönlichkeiten; sie redeten in der Mode, in der Kunst und oft sogar in der Politik mit. Zur „Maitresse en titre“ ernannt, verstanden sie sich als Partnerin an der Seite des Königs und liebten den Herrscher meist wirklich. Im Schutz des Monarchen konnten die jungen Damen ihren Besitzstand sichern und ihre Familien in einflussreiche Stellungen bringen. Über die Liebe zum König versuchten sie, Machtpositionen zu erobern, die Frauen ihrer Zeit sonst verwehrt waren. Zugleich waren sie aber in jeder Hinsicht von der Zuneigung des Herrschers abhängig, gerieten in größte Bedrängnis, wenn sie diese Gunst verloren oder der König aus dem Leben schied.

 

Um sich im höfischen Intrigenspiel zu behaupten, bedurfte es all ihrer Wachsamkeit und Intelligenz. Von den Königinnen, die sich gekränkt in die Rolle der betrogenen Gemahlin zurückzogen, wurden sie vornehm mit Madame angesprochen, insgeheim jedoch Hure genannt. War die Demütigung zu groß, geschah das manchmal sogar in aller Öffentlichkeit. Die Verschwendungssucht der Mätressen, die den Staat ein Vermögen kostete, wurde ihnen vom Volk verübelt und lieferte Neidern gute Argumente. Doch sie brauchten den Glanz, um bei Hof Anerkennung zu finden. Nur so konnten sie sich auf längere Zeit neben dem König behaupten. Was den Rang bei Hof betraf, mussten sich die Favoritinnen der Herrscher den Königinnen, die für die Bewahrung der Thronfolge zuständig waren, unterordnen. An Glanz und Schönheit jedoch, oft auch an Reichtum und besonders an der Möglichkeit, den Monarchen zu beeinflussen, standen die Mätressen den Königinnen voran. Je nach Klugheit oder Raffinesse, nach Geschick oder Wendigkeit erhielten sie sich diesen unschätzbaren Vorteil auf möglichst lange Zeit. Sie versuchten nicht selten, ihre Stellung zu festigen, indem sie Kinder gebaren und den König dazu brachten, diese zu legitimieren.

 

Die berühmteste aller französischen Mätressen ist die Marquise von Pompadour; ihr ebenmäßiges Gesicht mit der hohen Stirn, der schmalen Nase und den wachen Augen schaut uns von den Einbänden vieler Abhandlungen und Werke über die Epoche Ludwigs XV. an. Sie hatte es darauf angelegt, die Geliebte des Königs zu werden, und gelangte, als das erreicht war, zu beachtlichem Einfluss. Sie war gebildet und kunstbegabt, verschwenderisch und mitunter großherzig. Sie verstand es, Allianzen zu schmieden, und mischte sich - keineswegs zum Wohl des Landes - in die Politik ein. Als sie den Herrscher mit ihren Liebeskünsten nicht mehr zu erwärmen vermochte, schaffte sie es, ihre Stellung zu behaupten, indem sie ihm jüngere Gespielinnen zugestand.

 

Mit der Renaissance tauchen erstmals jene Damen aus dem Schatten der Geschichte auf, die als königliche Favoritinnen zu Macht und Ehren kamen. So gilt Agnès Sorel, die später mit entblößter Brust sogar auf einem Altargemälde dargestellt wurde und dem Leben Karls VII. entscheidende Impulse verlieh, als erste offiziell anerkannte Mätresse in Frankreich. Die Schicksale bekannter französischer Mätressen, die in diesem Buch nachgezeichnet werden, sind eng mit den Kämpfen und Wechselfällen jener Jahrhunderte, den Religionskriegen und dem Niedergang des Ancien Régime, verbunden. Ihr Leben in Prunk und Überfluss stand häufig in schroffem Gegensatz zum Elend der niederen Schichten. Kriege und Hungersnöte im Verein mit Seuchen wie der Pest oder den Pocken dezimierten immer wieder die Bevölkerung.

 

Das Buch setzt im 15. Jahrhundert, dem Zeitalter der Jeanne d'Arc, ein und behandelt Lebensläufe bis hin zur Französischen Revolution. Die Gestaltung bewegt sich im Rahmen der geschichtlichen Überlieferung, ohne dass Fakten sklavisch aneinandergereiht werden. Einer anschaulichen Darstellung mögen die zum Teil etwas freier geformten Szenen und Dialoge dienen, genau wie die ins Geschehen verwobenen Anekdoten, die das Denken, Fühlen und Handeln der Protagonisten zeigen. Wie stets im Leben bilden Tragik und Komik, Intelligenz, Dummheit, ja selbst Verbrechen dabei ein Ganzes. Das Buch handelt von Frauen zwischen größtem Ruhm und tiefster Verachtung, zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Leidenschaft und Resignation, für die es eine Ehre und mitunter ein Fluch war, die Geliebte des Königs zu sein, und genauso widersprüchlich sind ihre Wege. Bisweilen stark und selbstherrlich, dann wieder schwach und verlassen spiegeln sie „Glanz und Elend“ des höfischen Lebens wider, um den Titel eines bekannten Buches von Balzac abzuwandeln. Sie haben geliebt und gelitten, verschwendet, geherrscht und manchmal auch bereut. In ihrem Drang nach Besitz und Macht, aber auch mit ihrer Hoffnung auf erfüllte Liebe stehen sie für eine vergangene Zeit, die unserer Gegenwart dennoch nicht so fern ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.“

 

Womit wir wieder bei Vergangenheit und Gegenwart angelangt wären und bei Frage, wie viel Kenntnis der Vergangenheit es eigentlich braucht, um in der Gegenwart gut zurechtzukommen. Auf geschickte Art und Weise Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbunden hat der französischer Schriftstelle, Drehbuchautor und Filmregisseur, Abenteurer und Politiker André Malraux in dem folgenden Zitat aus der Schatzkiste kluger Gedanken: „Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern.“ Viel Spaß beim Lesen. Aber bitte vergessen Sie, auch wenn Sie tief in die Vergangenheit abtauchen, bitte vergessen Sie nicht, irgendwann auch wieder in der Gegenwart aufzutauchen oder – in der Zukunft! Aber das sind schon wieder ein anderes Thema und ein neuer Newsletter, der aber erst noch geschrieben werden muss.

DDR-Autoren: Newsletter 08.09.2017 - Sex und Politik, Politik und Sex sowie Einsamkeit und Tod in Paris 1793