Wie man zum Krimischreiben angeregt wird, von sagenhaften Zwergen und sprechenden Raben – Acht E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 03.02. 2017) Nicht immer weiß man als Leser, wie ein Schriftsteller zu seinem Stoff kommt. Und woher nehmen speziell Krimi-Autoren ihre Anregungen? Dank C.U. Wiesner wissen wir, wie das geschehen kann: Dazu braucht es einen tatsächlichen Fall und ein Preisausschreiben. Mehr dazu und über seine Kriminalerzählung „Jonas wird misstrauisch“ ein klein wenig später. Denn diese ist einer von insgesamt acht aktuellen Deals der Woche der EDITION digital, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de acht Tage lang (Freitag, 03.02. 17 - Freitag, 10.02. 17) zu jeweils stark reduzierten Preisen zu haben sind. Dazu gehören weiter ein zweiter Krimi, Kindheitserinnerungen von C.U. Wiesner, Sagenhaftes aus dem Harz und ein historischer Roman, der vor und während der Revolution von 1848 spielt, sowie zwei bemerkenswerte Bücher von Wolf Spillner und ein Fantasy-Abenteuer, das Mut macht. Neugierig geworden? Dann folgen Sie bitte. Jetzt.
„Der Viertel Schlüssel“. Der erste der Krimis dieses Newsletters stammt von Ulrich Völkel und erschien erstmals 1988 beim Militärverlag der DDR: Der Autor hatte zuvor Gegenwartsbücher und historische Romane geschrieben, war vielen Lesern kein Unbekannter mehr. Nun versuchte er sich, dem Beispiel anderer Autoren folgend, auch auf dem Gebiet der Kriminalliteratur. Und dem „Vierten Schlüssel“ merkt man die Erfahrung des Verfassers, auch ein bisschen seine Routine im Umgang mit dem geschriebenen Wort an. Da ist gleich von der ersten Seite an Spannung, die Personen sind Menschen von Fleisch und Blut, und ihre Handlungen und Motive erscheinen logisch und verständlich. Und noch etwas bringt Völkel in den Kriminalroman ein: Er erzählt zwei scheinbar unabhängige Fälle, die sich auf eigenartige Weise berühren. Eine bisher kaum gekannte Konstruktion mit zweifellos neuartigen Spannungselementen, die selbst den geübten Krimileser nicht ohne Überraschung aus der Lektüre entlassen.
Und sein Krimi beginnt auch gleich mit einer Überraschung. Aber lesen Sie selbst: „Achim Bauer blickte auf seine Uhr: drei Minuten vor acht. Er hätte also noch zwei Minuten Zeit gehabt, um zu Gisela Werner zu gehen, deren Zimmer sich neben dem kleinen Sekretariat befand, linke Tür, während seines rechts abging. Termin war acht Uhr. Er nahm seine Unterlagen auf, überblickte noch einmal den Schreibtisch, ob nichts liegen geblieben war, rückte die Bleistifte wie Soldaten zurecht und ging aus dem Zimmer. Die Sekretärin saß an der Maschine. Da sie nach ihm gekommen war, grüßte er knapp und fragte sie, ob Kollegin Werner in ihrem Zimmer sei. Die Antwort wartete er gar nicht erst ab. Er hatte bereits die Klinke der gepolsterten Tür in der Hand, als die Sekretärin bejahte, und betrat den Raum, in dem die Abteilungsleiterin saß.
Gisela Werner machte sich gerade Notizen in ihrem Kalender. Sie blickte auf und lächelte ihm zu. „Guten Morgen, Achim.“ Er trat zu ihr, beugte sich schnell hinab und küsste ihre Wange. „Guten Morgen, mein Schatz.“ Dann blickte er auf ihren Terminkalender. „Alles voll. Und wo ist Platz für mich?“ Er spielte den Schmollenden.
„Achim!“, wies sie ihn zurecht. „Du weißt, ich mag das nicht im Büro. Braucht bloß mal jemand hereinzukommen. Also lass das bitte in Zukunft.“ Unmutsfalten auf der Stirn zeigten an, dass sie wirklich verärgert war. „Kommen wir zur Sache. Du bist der Meinung, dass die von mir vorgeschlagene Materialeinsparung auf Kosten der statischen Festigkeit geht. Ist das so?“ Er ging ohne sichtbaren Übergang, als hätten sie bereits geraume Zeit miteinander gesprochen, auf ihren sachlichen Ton ein. Seine Verärgerung ließ er sich nicht anmerken, denn das hätte keinen Eindruck auf sie gemacht. Dafür kannte er sie inzwischen zu gut.
Gisela Werner war zwei Personen in einer: leidenschaftliche Geliebte im Bett und unnahbar strenge Chefin im Büro. Es war eine seltsame Art von Verhältnis, das sie miteinander verband. Begonnen hatte alles, als sie ihre erste gemeinsame Dienstreise unternahmen. Hätte ihm jemand am Morgen gesagt, wie der Abend enden würde, wäre ihm das absurd vorgekommen. Zwar spielten sie sich die Bälle während der Verhandlung wie ein lang aufeinander eingestimmtes Paar zu, verstanden sich fast wortlos, wann der eine, wann der andere reden musste, aber eigentlich funktionierten sie wie ein perfekt konstruierter Computer. Dass es zwischen ihnen irgendwelche anderen als dienstliche Beziehungen geben könnte, schien gänzlich ausgeschlossen zu sein. Noch während des gemeinsamen Essens am Abend mit den Vertretern des Partnerbetriebes herrschte ein durchaus sachlicher Ton.
Gisela Werner war eine schöne Frau, gut gewachsen, die Bluse wohlgefüllt, schlanke Taille, runde Hüften, straffes Gesäß und lange Beine mit schmalen Fesseln. Ihr Gesicht, oval, von weich fallenden, kurz geschnittenen kastanienbraunen Haaren umrahmt, fiel besonders durch sinnliche volle Lippen und tiefdunkle Augen auf. Die Nase war schmal mit einem leichten Sattel. Vielleicht war ihm das alles nie bewusst geworden, weil er, wenn er in ihr schon die Frau sah, so eben doch eine, die ihm bei der Entscheidung, wer Leiter der Abteilung werden sollte, vorgezogen worden war, die erfolgreichere Konkurrentin also. Außerdem hatte er nie Verhältnisse mit gleichaltrigen Frauen gehabt. Er brauchte stets das Gefühl, der Überlegene zu sein. Selbstbewusste, aus eigenem Antrieb handelnde Frauen akzeptierte er höchstens im beruflichen Bereich. So waren alle seine Liebschaften gewesen, so war auch seine Ehe.
Als sie nach dem Abendessen im Lift in ihre Hoteletage fuhren, sagte sie: „Ich dusche mich und ziehe etwas anderes an, dann gehe ich in die Bar. Kommst du mit.“ Sie fragte nicht, sie sagte es.“
Zwei Jahrzehnte zuvor hatte C.U. Wiesner erstmals 1967 in der beliebten Blaulicht-Reihe des Verlages Das Neue Berlin seine Kriminalerzählung „Jonas wird misstrauisch“ veröffentlicht. Wie er zu dieser Geschichte kam, erzählte der Autor selbst: „An einem Wintertag des Jahres 1967 verließ der Kollege P., leitender Mitarbeiter des Eulenspiegel Verlages, um die Mittagszeit sein Büro in der Kronenstraße 73/74, um sich, wie er sagte, kurz mit einem alten Kriegskameraden zu treffen. Als seine Kollegen Feierabend machten, war P. noch immer nicht zurückgekehrt. Am nächsten Tag erschien er, sonst ein Muster an Korrektheit, nicht zum Dienst. Die Kollegen begannen sich zu wundern, zumal er am Vortage nicht mal seinen Mantel mitgenommen hatte. Bald schwirrten die Gerüchte durch das Haus.
Am Morgen darauf ging in einem Dorf bei Bernau eine junge Frau zur Arbeit. In einem Waldstück blieb ihr vor Schreck beinahe das Herz stehen. An dem Ast einer Eiche baumelte ein Mann mit heraushängender Zunge …
Der Fall P. konnte nie aufgeklärt werden. Als der Verlag Neues Berlin einen Wettbewerb um die beste Kriminalerzählung ausschrieb, beschloss ich, mich zu beteiligen. Da ich für längere Arbeiten gern den häuslichen vier Wänden entfleuchte, suchte ich mir ein ruhiges Quartier in der Uckermark. Als ich mit meinem Trabant gen Norden fuhr, hielt mich kurz hinter der Berliner Stadtgrenze ein junger Mann an. Ob ich bis Zerpenschleuse führe? Nachdem er eingestiegen war, erzählte er mir, er habe gerade seine Abiturprüfung bestanden. Ich gratulierte ihm und fragte ihn, warum er dann so ein trübseliges Gesicht mache. Da sagte er mir mit Tränen in den Augen, vor drei Tagen habe sich sein Lieblingslehrer erhängt.
Kurz vor Templin fand ich nach einigem Suchen mein Quartier. Es lag mitten im Walde, im Ortsteil Dreihäuser. In einem der drei kleinen Gehöfte bezog ich eine einfache Laube. Als es dunkel wurde schaute ich durch das Fenster auf den mondbeschienen alten Bauerngarten - und stutzte. Hinter den Beeten, dicht am Zaun lagen fünf flache Hügel. Sie sahen aus wie fünf Gräber.
Am nächsten Morgen erzählte mir meine Wirtin, die Bauersfrau Lemke: Jo, dat sind tatsächlich Gräber. Im April 1945 war hier ne Flüchtlingsfamilie einquartiert, und die ham sich, wie denn der Russe immer näher kam, vor lauter Angst inne Scheune uffjebammelt. Wat sollten wir damals machen - in dem Wirrwarr und die Kampfhandlungen? Da hat se unser Vadder eben mussten hier im Jarten bejraben.
Noch nie habe ich eine Geschichte so schnell zu Ende geschrieben wie in der Laube zu Dreihäuser. Später gewann ich dafür sogar den ersten Preis, und sie wurde 1967 in der Blaulicht-Reihe veröffentlicht.
Und so liest sich ein Ausschnitt aus dieser im wahrsten Sinne des Wortes ausgezeichneten Geschichte: „Dr. Soltwedel stieg allein aus und bat mich, zunächst im Wagen zu bleiben. Ich malte mir aus, was für Formalitäten die jetzt abziehen würden. Wozu das alles? Ich wollte wissen, auf welche Art Ammoneit umgekommen war. Nach zehn Minuten kehrte der Alte mit einem VP-Leutnant zurück. Ich musste meine Papiere vorzeigen. „Bitte, kommen Sie mit“, sagte der Leutnant. Den ersten und letzten Toten hab’ ich 1945 gesehen, als Junge. Mir wurde jetzt doch etwas unbehaglich. Komisch, da liest man so viele Krimis und kuckt sich die schönsten Leichen im Fernsehen an. Aber in Wirklichkeit ..., und wenn man jemanden gut gekannt hat ...
Der Leutnant brauchte mich nicht erst zu fragen, wer das sei, als er die Decke zurückschlug. „Karl Ammoneit“, sagte ich schnell und wandte mich ab. Verdammt noch mal, mir zitterten die Knie. „Na, nun kommen Sie“, sagte der Leutnant, „wir können die Fragen auch in unserem Wagen stellen.“
Während die Leiche weggefahren wurde, saßen wir in dem Funkwagen. Ich durfte während des Gesprächs rauchen. Ob ich Ammoneit näher gekannt hätte, wollten sie wissen. Ich sagte, dass wir oft miteinander auf Dienstfahrt gewesen seien. Nach ein paar belanglosen Fragen erzählten sie mir endlich, wie es passiert war. Ammoneit hatte sich gestern etwa zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Uhr am Brückengeländer erhängt. Warum, warum, warum? dachte ich immerzu und fragte schließlich auch. Der Leutnant musterte mich aufmerksam. „Haben Sie eine Vermutung?“, erkundigte er sich. Ich schüttelte den Kopf. „Steigen Sie aus und begleiten Sie uns zu Ihrem Wagen!“, sagte er. Was sollte denn das nun wieder? Dachte der vielleicht, Ammoneit hätte einen Abschiedsbrief in meinem Handschuhfach hinterlassen?
„Wo bewahren Sie Ihr Werkzeug auf?“, fragte er. Dämliche Frage. Auf der Hutablage ganz bestimmt nicht. Ich öffnete den Kofferraum. „Zeigen Sie uns Ihr Abschleppseil!“ Mir wurde siedendheiß. Eine Redensart meiner Großmutter fiel mir ein: Im Hause des Erhängten soll man nicht vom Strick sprechen. Das Abschleppseil! Ich bin als Kraftfahrer ein ordentlicher Mensch, zweifacher Aktivist, keinen selbst verschuldeten Unfall, Jonas, unser Vorbild. Aber manchmal schludert man eben doch. Mein Abschleppseil, viel älter als dieser Wagen und offenbar schon etwas morsch, war vor etwa vier Wochen gerissen, als ich auf der Autobahn einen Wolga anrucken wollte. Wir hatten dann seins benutzt und meine beiden Enden in den Kofferraum geschmissen. Ein paar Mal hatte ich mir vorgenommen, ein neues Seil zu besorgen. „Träumen Sie nicht, Bürger!“, sagte der Leutnant ungeduldig. Ich griff neben das Reserverad, holte das kurze Ende hervor und setzte zu meiner Beichte an. „Sie brauchen nicht weiterzusuchen“, unterbrach er mich. „Genosse Hauptwachtmeister, zeigen Sie ihm das andere Ende!“ Der Volkspolizist hatte es schon in der Hand. Ich erkannte es sofort als meins. „Mit diesem Seil“, sagte der Leutnant, „ist die Tat begangen worden.“
Wiederum anderthalb Jahrzehnte nach dieser Krimimalerzählung druckte der bereits mehrfach erwähnte Berliner Eulenspiegel Verlag unter dem Titel „Machs gut Schneewittchen“ zehn Geschichten aus der Kinderzeit von C.U. Wiesner: „Auf den folgenden Seiten tauchen die Gestalten meiner Kindheit aus dem Nebel der Vergangenheit auf: der böse Kaufmann Sumpf, dessen Weib ich in ohnmächtiger Rachsucht beinahe umgebracht hätte, der furzende Lehrer Buchhorn, dem ich einen Spitznamen verpasste, der ihm bis zum Lebensende anhing, die Kinder des Reichspropagandaministers auf der Insel Schwanenwerder, der Feldmarschall von Mackensen in der Uniform der Totenkopfhusaren, welcher schmählich im Katzendreck erstickte, und viele andere.
Meine Heimatstadt nannte ich 1982 nicht beim Namen, aber sie ist unschwer als Brandenburg an der Havel zu erkennen. Auch die meisten Personen verschlüsselte ich, denn man weiß ja nie …Trotzdem wäre es einmal beinahe schiefgegangen. 1986 veranstaltete die größte Buchhandlung der Stadt eine Signierstunde. Mehr als zweihundert Leser standen Schlange, aber so was war im Leseland DeDeDingsda keineswegs ungewöhnlich. Bei der anschließenden Lesung saß in der ersten Reihe ein Mann, der mir durch seine Schnapsfahne und seinen finsteren Blick auffiel. Leicht verunsichert überlegte ich: Woher kennste denn den Kerl? Nachdem der Beifall verrauscht war, zischte mir der Mann zu: „Det is ne Schweinerei von dir, dette jeschrieben hast, wie dolle mein Vadder jeschielt hat. Komm du mir nachher hier raus, sag ick dir!“
Nun erst erkannte ich meinen ehemaligen Jungenschaftsführer Günter, der in dem Kapitel ‚Als ich ein Großdeutscher Pimpf war‘ zu Recht nicht sehr schmeichelhaft weggekommen ist. Ich verließ die Buchhandlung durch die Hintertür. Wie lange können Ressentiments noch weiterglimmen? Er war damals dreizehn, ich zwölf Jahre alt.
Eigentlich sollte der Schutzumschlag ein Mädchen und einen Jungen in der Kinderuniform des Tausendjährigen Reiches zeigen. Dies verhinderte der Leiter des Eulenspiegel Verlages: „Solange ich was zu sagen habe, kommen mir keine Nazisymbole auf die Umschläge!“
Die beiden Kindlein, die auf der damaligen Auflage zu sehen waren, trugen neckisches Zivil. So fragten auf den Buchbasaren viele Käufer: „Das ist doch wohl ein Kinderbuch?“ – Dann musste ich sie immer warnend darauf hinweisen, dass in dem Buch viele unanständiger Sprüche vorkämen.
Auch die Titelfigur, mit der ich ja aus reiner Pointensucht nicht durchweg liebevoll umgegangen bin, ist mir noch einmal leibhaftig begegnet. Nach einer Lesung 1989 in der Freien Universität Berlin stand eine ansehnliche Dame vor mir: „Kennst du mich nicht mehr? Ich bin doch dein Schneewittchen.“ Sie hat mir nichts nachgetragen, und solange wir nicht gestorben sind, reden wir ab und an noch gerne miteinander.
Wer wissen möchte, wie es dem Erzähler fürderhin ergangen ist, der greife bittschön zu seinem Buche ‚Lebwohl, Rapunzel!‘ – Aber das gibt es diesmal nicht als Deals der Woche. Dafür aber präsentieren wir ein Stück aus einer der zehn Geschichten aus der Kinderzeit von C.U. Wiesner, in der er davon erzählt, wie seine Laufbahn als Kaviervirtuose scheiterte: „Man müsste Klavier spielen können, behauptete man vor einem Menschenalter, denn wer Klavier spielt, hat Glück bei den Frauen. Was mögen das für rückständige Zeiten gewesen sein! Ein junger Mann von heute würde bei den meisten Mädchen als bleicher Spinner abblitzen, versuchte er, auf diese altmodische Art zu landen, es sei denn, er säße schön und blond wie der Franzose Richard Clayderman im weißen Frack am weißen Flügel und spielte Pour Adeline oder Song Of Joy. Aber wer klimpert sonst schon noch selber auf dem Piano herum, wo es doch viel bequemer ist, eine Platte aufzulegen oder den Rekorder einzuschalten? Im Zeitalter der wachsenden Spezialisierung überlässt man die Musik den professionellen Fachleuten, anstatt sich mit hausgemachter Stümperei abzugeben.
Was mich betrifft, so bin ich ein altmodischer Mensch und bedauere das Dahinsterben des Klavierspielens. Eingeweihte wissen, dass ich nicht von jenem Instrument rede, wie es Annerose Schmidt in internationalen Konzertsälen zu immer neuen Ehren führt. Ich meine jenes Klavier, das in einem Café stand. Drei würdige Herren, Violine, Cello, Piano, gaben dort nachmittags zu Mokka und Kirschtorte die Serenade von Toselli oder das Poem von Fibig, vertauschten nach dem Abendbrot den schwarzen Smoking mit der Lüsterjacke, die Streichinstrumente mit Saxofon und Schlagzeug und spielten zu gedämpftem Licht eine so leise, zärtliche Barmusik, dass man seiner Partnerin beim Tanzen nicht das Ohr abbeißen musste, um ihr mitzuteilen, dass man das erste Mal in dieser zauberhaften Stadt sei. So was gab es, Ehrenwort! bei uns noch Mitte der sechziger Jahre, zum Beispiel im Bahnhofshotel zu Quedlinburg. Als die Nostalgiewelle trotz allen Hohngeschreis der Presse auch bei uns eindrang, vielleicht nicht so sehr die Seelen wie die Haushalte überspülte, hegte ich die heimliche Hoffnung, auch das Klavier mit seiner dezenten Barmusik würde wieder in unseren Breiten heimisch werden. Ein törichtes Hoffen, wie inzwischen jeder weiß.
Wäre ich nicht ein so faules und undiszipliniertes Kind gewesen, so könnte ich heute mich und die Meinen an den himmlischsten Gaben der Frau Musica laben. In meinem Zimmer stünde ein braunes, matt glänzendes Klavier mit messingnen Kerzenleuchtern. Und wenn mir so wäre, mitten in der Nacht, so setzte ich mich im Schlafanzug auf den harten Schemel, schlüge behutsam den Deckel auf und spielte mit versonnenem Lächeln die Mondscheinsonate.
Geboren bin ich in einer Eckkneipe, im letzten Monat der Weimarer Republik. Die Stammkunden nannten das Lokal den „Blauen Affen“, obwohl es eigentlich ganz anders hieß. Es verkehrten dort Arbeiter, Straßenbahner und Inhaber kleiner Läden, Kommunisten, Sozialdemokraten und parteilose Kleingärtner. Familienväter versoffen ihren Wochenlohn und Arbeitslose ihr Stempelgeld. Selbst der berüchtigte Zuhälter und Messerstecher Schmalte Brebeck trank ab und an seine Molle und seinen Korn, soll jedoch niemals randaliert haben.
Der „Blaue Affe“ muss eine mächtig verräucherte Stampe gewesen sein, hatte aber außer den herkömmlichen schlichten Getränken auch einiges zu bieten, nämlich Bockwurst mit Kartoffelsalat, Soleier und Buletten und nicht zuletzt das Klavierspiel meines Vaters. Das war nämlich das einzige, was ihm in dieser Kneipe Spaß machte. Als sehr jungen Mann hatte ihn der Rat der älteren Geschwister dazu verdammt, meiner Großmutter am Tresen mannhaft zur Seite zu stehen.
Mein Vater hat nie Klavierspielen gelernt, aber es ist noch heute so mit ihm: Er nimmt ein Instrument zur Hand, fingert ein bisschen daran herum, und schon entlockt er ihm zusammenhängende und durchaus melodisch klingende Töne. Im „Blauen Affen“ spielte er im Nu die allerneuesten Schlager: „In einer kleinen Konditorei ...“, „Schöner Gigolo, armer Gigolo ...“, „Adieu, du kleiner Gardeoffizier ...“, „Es war einmal ein Musikus ...“
Die Schlager des Jahres 1935 hießen: „Regentropfen, die an dein Fenster klopfen ...“ und: „Du kannst nicht treu sein, nein, nein, das kannst du nicht ...“. Man sagt mir nach, ich hätte neben Vaters Klavier gestanden und aus voller zweijähriger Kehle mitgesungen. Es waren schlechte Zeiten für eine Arbeiterkneipe, deren Pächter von der Adlerbrauerei doch ziemlich ausgeräubert wurde. Die verlangte als Pacht vierzig Prozent vom Bierumsatz, wobei Vater natürlich das Bier nur von der Adlerbrauerei beziehen durfte, und das war fast noch schlechter als das, was man heute für gewöhnlich in den Kaufhallen meiner Heimatstadt in seinen Korb fischt.“
Bevor wir uns anderen Themen zuwenden, wollen wir etwas Sagenhaftes einschieben und zwar Sagen aus dem Harz. Unter dem Titel „Von Geisterspuk und Hexenflug“ hatte Bernd Wolff 1997 Jüttners Verlagsbuchhandlung Wernigerode einen „Sagenspiegel des Harzes“ des Harzes vorlegt: Teufelsmauer, Roßtrappe, Hübichenstein, Brocken – so vielfältig wie die Landschaft des Harzgebirges sind seine Sagen, in denen sich Denken und Hoffen, Freude und Schrecken, Leid und Zuversicht widerspiegeln.
Dieses Sagenbuch, in dem Bernd Wolff die alten Begebenheiten auf eigene poetische Weise und mit der nötigen Portion hintergründigen Humors nacherzählt, hilft dem Leser über das Vergnügen am Text hinaus, die mündlichen Überlieferungen in ihrem historischen Zusammenhang zu begreifen. Dazu werden auch mitunter schriftliche Quellen herangezogen. Deshalb sind die Sagen nicht wie üblich nach Ortschaften, sondern nach Themenkreisen geordnet. Hüttenkobolde und Zwerge, Götter und Riesen, Hexen und der in diesen Bergen besonders präsente Teufel, Bergleute, Schatzsucher, Reiche, Arme und Geprellte sowie gruselige Nachtgeister bevölkern die Seiten. Jedes der übergeordneten Kapitel wird eingeleitet durch ein Zitat aus Goethes „Faust“, das zeigt, wie dieses Nationalepos unserem Gebirge besonders verbunden ist. So stellt sich unschwer die Verbindung von Volksdichtung und klassischer deutscher Literatur her, die beide aus einem Born geschöpft sind.
Und als ein Beispiel für die sagenhafte Lektüre sei hier der Text „Über das Vorhandensein von Zwergen“ angeführt: „In alten Zeiten, als das Berühren eines Buckligen noch Glück brachte, fanden sich allenthalben Zwerge im Harz. Abseits von den Menschen lebten sie ihr stilles Leben in Höhlungen und Löchern und ließen sich nur im Notfall blicken. Wer auf gutem Fuß mit den Hausgeistern stand und ihnen abends oder zu Feiertagen Milch und Brot vor die Tür stellte, dem gaben sie sich auch zu erkennen, borstig wie Igel, mit aufmerksamen Mardergesichtern, rotpelzigen Fuchsmützen, grämlich-breiten Dachsnasen. Mit klugen, urweisen Augen wie Steinkäuze oder Uhus. Dem wühlten sie mitunter Schätze zutage, Katzengold und Bachedelsteine, Tongeschirr aus verschütteten Tagen, Steigbügel oder Sporen, uralte, grünspanige Münzen. Sie kannten sich in der Erde aus und nutzten die feinsten Spalten und Gänge, wo große Bergleute hoffnungslos stecken geblieben wären.
Desgleichen kannten sie alle Heil- und Zauberkräuter. Und sie verstanden die Kunst, sich von einem Augenblick auf den anderen unsichtbar zu machen, so dass man die Augen rieb und nicht wusste, hatte man sie nun erblickt oder nicht.
Sie hielten sich fern von menschlichen Siedlungen, doch in erreichbarer Nähe; sie lebten an Flussläufen und dort, wo Erze zu vermuten waren; im Ausgraben, Schmelzen und Schmieden blieben sie unübertroffene Meister. Sie waren so breit wie hoch, gedrungene, kurzhalsige, kurzbeinige Gesellen, die sich auf geheime Zeichen und Künste verstanden und die Nacht zum Freund hatten. Sie trugen zipflige Ohrenmützen wie die Bergknappen, Lederschürzen und unterm Knie gebundene Hosen mit Hinterleder, so konnten sie nirgends hängen bleiben. Man wüsste nichts von ihnen, wenn sie sich nicht immer wieder zu den Menschen hingezogen fühlten, denen sie halfen und deren Hilfe sie brauchten, mit denen sie auch zuweilen ihren Schabernack trieben und die sie bestahlen, was letztlich zum Zerwürfnis führte.“
In nicht ganz so alter Zeit, sondern vor und während der Revolution von 1848 spielt der Roman „Sieben Rebellen“ von Heinz-Jürgen Zierke, der erstmals 1967 im VEB Hinstorff Verlag Rostock herauskam: An einem Morgen im Februar 1848. Hinrich Knubbe hebt die Peitsche. „Schlag zu!", befiehlt Herr von Negendangk. Aber Knubbe lässt die Peitsche sinken vor dem Bauern Krumbeck, dem Vater seiner Braut. Und der Herr hetzt ihn mit Hunden vom Hof.
In der Stunde der Not findet Hinrich neue Freunde, Bauernsöhne, Tagelöhner, Bürger aus der Kreisstadt. Nur Krumbeck verschließt vor ihm das Tor. Der landstolze Kleinbauer will seine Tochter nicht dem Leibkutscher geben.
Negendangk ruft Militär. Da bricht in Berlin die Revolution aus. Die Soldaten ziehen ab. Die Bauern veranlassen Krumbeck, seine Zustimmung zur Hochzeit zu geben. Kaum aber haben sich die Stürme der Revolution gelegt, erhalten Knubbe und seine Freunde im Dorf den Gestellungsbefehl. Jetzt vor der Ernte? Sie ziehen zum Landratsamt, um ihre Freistellung zu verlangen. Neugierige strömen ihnen zu. Die Behörden fürchten einen Aufstand und schicken nach den Kürassieren.
Fünf Mann schlagen sich nach Berlin durch. Sie geraten in den Sturm auf das Zeughaus. Hinrich wird verwundet. Er will Preußen verlassen. Aber die Sehnsucht nach Gertrud und dem Kind, das sie erwartet, lässt ihn noch einmal die Heimat aufsuchen. Unerkannt gelangt er bis zu Krumbecks Gehöft. Aber der Bauer, aus Angst um seine Tochter, liefert ihn den Häschern aus.
Zunächst aber ist in dem Buch von Heinz-Jürgen Zierke gar nicht von Politik die Rede, sondern von Liebe – und von Verlorenheit, Verlorenheit wie ein Groschenstück im Hafersack. Schlagen wir gleich das 1. Kapitel auf: „Das Küchenmädchen Grete Koppen hätte sich gern noch einmal unter die Decke gekuschelt, aber ihre Freundin Berta schüttelte sie heftig und brüllte ihr ins Ohr: „Aufstehen! Er pfeift!"
„Wer pfeift?“ „Wer schon! Dein Leibkutscher." Sie liefen beide zugleich ans Küchenfenster, stießen sich gegenseitig an und kicherten. Ein Glück, dass die Mamsell noch nicht unten war, aber so eilig hatte die es nie. Das Fenster klemmte. Der stete Wrasen ließ das Holz quellen, und in der Februarkälte hatte sich Eis in die Ritzen gesetzt. Berta schlug mit ihrer fleischigen Hand gegen den Riegel. Das Eis knirschte, es gab nach, das Fenster ließ sich aufstoßen.
Die eisige Morgenluft brannte in den verschlafenen Gesichtern. Der Pferdeknecht und Kutscher Hinrich Knubbe schleppte Wasser in den Stall und pfiff dabei laut vor sich hin. Als der alte Kuhknecht Wilhelm Schüller seinen grauen Kopf aus der Stalltür steckte, um sich, wie jeden Morgen, über den frühen Lärm zu beschweren, fischte Hinrich ein Stück Eis vom Brunnenrand und zielte damit auf die dicken Zapfen, die in dichter Reihe von der Dachtraufe herabhingen. Der Wurf saß.
Ein armlanges Eisstück zersplitterte vor Schüllers Füßen, fast hätte es ihm die Stummelpfeife aus der Hand geschlagen.
„Den Vogel, der am Morgen pfeift, den holt am Abend die Katze“, zeterte der Kuhknecht und zog sich in die dunstige Wärme des Stalles zurück.
„Gute Laune heute. Wer weiß, wo er gestern Abend war!", stichelte Berta, während sie sich das Gesicht abspülte. Grete war die Neckereien der Freundin gewöhnt und antwortete doch immer wieder darauf. „Er ist wieder spät nach Hause gekommen und doch als erster auf den Beinen." Sie fachte die Glut an, die versteckt unter der Asche glimmte, und legte kieniges Kiefernholz nach, das hell aufflammte.
„Hast wieder die halbe Nacht wach gelegen, und dann kannst du morgens nicht aus den Laken finden!“ „Pah, ich hab nicht gewartet, ich konnte nur nicht einschlafen. Meinetwegen soll er glücklich werden mit dem Bauernmädchen, ich sehe nichts davon." „Du hast es gut, kommst heraus aus dieser Sandkuhle. Aber ich an deiner Stelle hätte nicht so schnell aufgegeben. Was ist denn an Gertrud Krumbeck dran? Die ist genauso dürr wie du. Ich verstehe nicht, was er an ihr findet."
Grete war wirklich sehr schmal. Wie ein Rehkitz, dachte sie manchmal, wenn sie sich im Spiegel sah, nur nicht so staksig auf den Beinen. Berta war dagegen kräftig und drall, hatte runde Arme, breite Hüften und ein glattes Gesicht, das immer ein wenig rot schien, vor Lachen oder vor Anstrengung, je nachdem. „Die Wirtschaft gibt ihm Wilhelm Krumbeck nie im Leben. Eigentlich dumm von dem Bauern. Ist doch selbst nur ein armer Schlucker, und einen besseren Schwiegersohn als Hinrich kann er sich gar nicht wünschen: groß und kräftig - was er anpackt, gelingt ihm -, und immer ist er freundlich. Ich habe ihn noch nie wütend gesehen. Nur manchmal fliegt ein Schatten über seine Augen und macht sie traurig. Ob er dann an seine Mutter denkt? Ich glaube, in einem solchen Augenblick hast du dich in ihn verliebt. Werde bloß nicht eifersüchtig, weil ich für ihn schwärme. Ich gönne ihn dir."
Grete rührte die dampfende Grütze um, die die Mägde und Knechte zum Frühstück bekamen. „Ach, jetzt fängt der auch noch an!“ Ein dünner, erfrorener Ton klirrte durch den Morgen, brach ab, setzte neu an, seufzte, kreischte auf, stöhnte, zitterte, fing sich zu einer eintönigen Melodie, die niemand kannte. Inspektor Merker kratzte auf seiner Geige. Grete zog das Fenster zu.
„Dann wird es heute sein Abschiedsessen? Oder deins für ihn natürlich. Rühr ihm nur einen Kloß Butter an seine Grütze; die Mamsell merkt’s schon nicht. Ab morgen, wenn ich austeile, kriegt er nicht ein Lot mehr als alle andern. Das hat er schon deinetwegen verdient." Grete keilte stumm die Grütze in die Blechschüsseln. So sehr sie sich auf die neue Stellung in der Stadt freute, so schwer drückte der Gedanke, Hinrich vielleicht nie mehr zu sehen. Sie schalt mit sich selbst deswegen; denn Hinrich hatte keinen Blick für sie, er war immer freundlich, ja, aber nie freundlicher als zu Berta Siewert oder Trine Pust auch. Dass Grete seine Grütze mehr schmälzte, dass sie ihm den Kanten Brot breiter, die Scheibe Speck dicker schnitt, bemerkte er wohl gar nicht. Er hatte nur Augen für Gertrud Krumbeck, und doch kam sich Grete verloren vor wie ein Groschenstück im Hafersack, wenn sie sich vorstellte, dass sie übermorgen früh nicht mehr von Hinrichs Pfeifen geweckt wurde.“
Es folgen zwei Bücher des Fotografen und Schriftstellers Wolf Spillner. Zunächst das 1984 im Kinderbuchverlag Berlin erschienene „Durch Urwald und Dünensand. Aus Naturschutzgebieten und Nationalparks der CSSR, der VR Polen und der DDR“: Für dieses Buch ist Wolf Spillner fast dreißigtausend Kilometer gefahren und viele Hundert Kilometer gewandert und geklettert. Bekannte und unbekannte Pflanzen und Tiere in geschützten Landschaften wollte er beobachten und fotografieren, um darüber berichten zu können. So kam er in verschiedene Naturschutzgebiete und Nationalparks in der Volksrepublik Polen, in der CSSR und in der DDR. Von den Seen der wilden Gänse und seltenen Schwarzhalstaucher seines mecklenburgischen Dorfes, über die im Frühjahr und Herbst die Seeadler fliegen, ist er zu den scheuen Wisenten gefahren und vor ihnen davongerannt. Durch glutheißen Sand der Wanderdünen an der Ostsee ist er gestapft und durch den Sommerschnee der Hohen Tatra, dort, wo die Karpatengämsen leben. In den regennassen Waldbergen der Bieszczady hat er den Schwarzstorch auf seinem Nest gesehen und die seltene, kleine Orchidee Korallenwurz auf der Insel Rügen. Unter der Tarnkappe seines Versteckzeltes hat er mit Notizbuch und Kamera auf Bäumen und im Sumpf, zwischen Felsgeröll und im Schnee gesessen, um die scheuen Tiere zu belauschen und Bilder von ihrem Leben für dieses Buch zu sammeln. Das war nicht immer leicht. Aber es war immer schön, denn viele freundliche Menschen, die sich in den Reservaten und Nationalparks um den Schutz der Natur sorgen, haben ihm sehr geholfen. Nur so konnte dieses Buch im Laufe einiger Jahre entstehen. Spillner hat viel von der Schönheit der Natur gesehen und doch nur einen Teil vom Reichtum unseres blauen Planeten.
Hier ein kurzer Auszug aus dieser Liebeserklärung an unseren blauen Planeten: „Über diese Seen fliegen viele Vögel. Das Trompeten der Kraniche klingt dort im Frühjahr und Herbst, der klagende Flötenruf der Brachvögel im späten Sommer und das Geschrei der Blessgänse bis in den Winter hinein. Im Frühjahr und Sommer werden die beiden Seen von den Vögeln nicht nur überflogen, dann sind die kleinen Inseln, die weiten Schilfzonen und die verkrauteten Flachwasserbuchten Brutstätten und Mauserplätze. In dieser Zeit verstummen die Vogellaute nie, nicht am Tage und nicht in der Nacht.
Die Seen sind nicht sehr groß. Wenn die Kraniche in winkligen Flugkeilen am blassen Frühjahrshimmel zu ihren Brutplätzen ziehen, überqueren sie das Wasser und die Schilfwälder unter sich in wenigen Minuten. Wie zwei seichte Schüsseln liegen die Seen im flachwelligen Land nebeneinander. Aus der Höhe ihres Fluges könnten die Kraniche weit zur Linken die Türme der Stadt Wismar und dahinter die Ostsee erkennen und fern im Süden die Bezirksstadt Schwerin. Um die Seen breiten sich Felder, im Westen schließt sich ein Torfmoor an, und vier Dörfer liegen rund um die Seen.
Die Kinder aus den Dörfern können in diesen Seen nicht baden. Das Wasser ist zu flach und der Seegrund mit einer dicken Schicht verrottender Pflanzen bedeckt. Und wenn das Wasser warm genug zum Baden ist, dann wird es dicht von Wasserpest, Wasserschlauch und anderen Pflanzen durchzogen. Algen bilden auf seiner Oberfläche große, gelbgrüne Teppiche. Millionen und aber Millionen brauner und roter Wasserflöhe tanzen im Wasser zwischen den Pflanzen umher. Wer mag in solcher „Suppe“ aus Wasserflöhen baden? Die Kinder fahren daher zum tiefen Rugensee, zur Ostsee oder zum großen Schweriner See.
Die Vögel aber lieben die Seen mit den vielen Wasserpflanzen. Auch jene Wasservögel, die an anderen Gewässern schon selten geworden sind, nisten dort. Deshalb stehen die Seen zwischen den Feldern von Bobitz und Drispeth, Wendisch Rambow und Dambeck unter Naturschutz. Kein Jäger darf hier den Gänsen und Enten nachstellen, kein Angler mit seinem Boot die Trauerseeschwalben, Schwarzhalstaucher und Bartmeisen stören. Das Naturschutzgebiet Dambecker Seen gehört den Wasservögeln.
Im Winter ist es still an den Seen. Nur der Wind pfeift über das Eis, biegt das Röhricht und fegt den Schnee von den Feldern hinter Hecken und im Schilfwald zu meterhohen Wehen. Von den Schwarzpappeln und Weiden halten Bussarde Ausschau nach Mäusen, der Fuchs lässt im Schnee die Perlschnur seiner Spuren zurück, und in der Dämmerung brechen die Wildschweine durch das raschelnde Schilf. Selten nur wispern ein paar Blaumeisen, die aus dem Moorwald kommen, zwischen den Schilfrispen. Solange das Eis die Dambecker Seen gefangenhält, bleiben die Wasservögel dort, wo es wärmer ist als bei uns. Die Graugänse haben das Schutzgebiet schon im Sommer verlassen. Mit ihren Jungen sind sie davongeflogen. Doch im Herbst, wenn die Schlehen in den Hecken reifen und der Weißdorn mit roten Beeren überschüttet ist, ziehen andere Wildgänse an die Seen. Zunächst sind es nur wenige, dann hundert, und Ende Oktober fallen Bless- und Saatgänse, die aus Sibirien und von Skandinavien kommen, zu Tausenden ein, um hinter dem Schilf auf der großen, freien Wasserfläche zu schlafen. In mondhellen Raureifnächten klingen ihre Stimmen hell und keifend weit über die Seeufer hin. Morgens in der Dämmerung erheben sie sich flügelrauschend und verteilen sich über die Felder.“
Das zweite Buch von Wolf Spillner, „Taube Klara oder Zufälle gibt es nicht“ erschien ebenfalls im Kinderbuchverlag Berlin, allerdings drei Jahre später als „Durch Urwald und Dünensand“: Es geht darin um Hannes, seine Mutter und seinen Vater, um seine Oma und um Opas Lieblingstaube Klara. Die allerdings ist tot. Aber warum?
Das Buch „Taube Klara“ wurde in acht Sprachen übersetzt und 1991 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Schauen wir kurz hinein: „Der Zug schaukelt. Er stuckert, und die Räder tuckern auf den Schienenstößen. Mutter schläft. Sie hat sich in die Ecke gekuschelt, den Mantel halb über sich. Ihr Kopf schaukelt an der Lehne hin und her. Sie sieht richtig lieb aus, wenn sie schläft. Wie auf Befehl kann sie schlafen. Das hat sie sich beigebracht, und das braucht sie auch, wenn sie Nachtdienst hat im Krankenhaus. Aber sie kann auch auf einen Schlag wieder wach sein, und dann ist sie voll da, ohne lange zu blinzeln. Augen auf, und es geht weiter. Mit der Arbeit oder was gerade so anliegt. Willenssache, sagt sie, reine Willenssache.
Über dem Koffer wackeln meine Skier hin und her. Wenn sie runterfallen, knallen sie uns und den anderen Leuten genau auf die Beine. Aber sie fallen nicht. Mutter hat ihre Tasche davorgeklemmt. Kann gar nichts passieren.
Mutter ist perfekt, sagt Vater. Ob er das immer gut findet, weiß ich nicht, denn wenn er von See kommt, ist sie der Käptn zu Hause. Sie ist immer der Käptn, und sie weiß, was Sache ist, egal, was anliegt. Für Oma wollte sie's auch wissen. Und Oma sagt: Du machst mir bisschen angst!
In meinem Campingbeutel steckt der Vogel aus Holz. Eine Taube ist das nicht. Er hat keine roten Augen wie Klara, und Klara ist tot, und Oma weiß das. Wie es dazu kam, weiß ich noch immer nicht. Vielleicht wollte Mutter Klara gar nicht totmachen. Kann ja sein, dass es Zufall war.
Zufälle gibt es nicht, sagt Vater. Alles hat Ursachen! Kein Schiff läuft aus Zufall auf Grund. Wer seinen Kahn auf Grund setzt, der hat nicht aufgepasst. Oder der weiß zuwenig. Und dann, peng, passiert es. Wenn der Hund nicht, dann hätt er den Hasen gehabt, sagt Vater. Wenn der Hund nicht gekackt hätte! Aber solche Sprüche will Mutter nicht hören. Das gehört sich nicht! Also hält sich Vater zurück. Er grient nur ein bisschen und sagt: Wenn der Hund nicht ...
Ich weiß genau, was Vater denkt, und Mutter natürlich auch. Es kann schon ausreichen, dass sie sauer ist. Kommt ganz drauf an, wie ihr Dienst war. Was alles passiert ist im Krankenhaus.
Zufall oder nicht - Klara ist tot. Liegt im Müllcontainer am Jammerfeld. Nichts mit weggeflogen oder Habicht! Das kann man Oma nicht erzählen.“
Ein bisschen jünger als Hannes aus Spillners „Taube Klara“ ist die Heldin aus dem in diesem Jahre bei der EDITION digital sowohl als gedrucktes Buch wie auch als E-Book erschienene Fantasy-Geschichte „Nadja Kirchner und die Raben aus der geheimnisvollen Senke“ von Johan Nerholz: Ein zwölfjähriges Mädchen, das keine Eltern mehr hat, wächst in einem Dorf bei ihren Großeltern auf. Auch wegen ihrer guten Leistungen in der Schule wird die kleine und stille Nadja von anderen Jungen aus dem Dorf angefeindet und sogar angegriffen. Doch niemand scheint ihr zu helfen. Da findet sie eines Tages einen jungen Raben, den sie mit nach Hause bringt. Gemeinsam mit ihren Großeltern pflegt sie ihn gesund. Und dann wird das Tier offensichtlich von seinen Raben-Eltern abgeholt. Einer der beiden Raben ist riesig. Als Nadja kurze Zeit später wieder von einigen Jungen angegriffen wird, kommen ihr die Raben zu Hilfe und vertreiben die Angreifer. Kurz darauf wird Nadja in die Senke gelockt, die früher mal ein kleiner See war und die schon lange kein Mensch mehr betreten konnte. Dort gibt sich ihr der riesige Rabe Rontur zu erkennen. Er ist der Anführer der Raben und kann sprechen.
Ab sofort steht das Mädchen unter dem Schutz dieser Vögel. Und Nadja lernt sich zu wehren – auch mit übernatürlichen Mitteln. Die braucht sie aber auch, da das Mädchen von übernatürlichen Gestalten angegriffen wird. Zu ihrem Schutz wird der riesige ehemalige Dämonenhund Takesch abgestellt. In diesem Zusammenhang lernt Nadja auch eine ihr bisher unbekannte Seite ihrer bei einem mysteriösen Autounfall getöteten Mutter Manuela kennen. Sie war einst Bannherrin des Sees gewesen und hatte damit auch für den Schutz der Raben gesorgt. Und der Dämonenhund Takesch war damals Beschützer ihrer Mutter. Im weiteren Verlauf der Handlung, die mehr und mehr zwischen der Wirklichkeit und dem Reich der Fantasy changiert, muss sich Nadja auch noch ganz anderer Feinde erwehren, und sie lernt Dinge kennen und beherrschen, die kein Mensch leisten kann. Schließlich kommt es zu einem alles entscheidenden Kampf. Und Nadja trifft eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen …
Das spannend und geheimnisvoll erzählte literarische Debüt wurde für Kinder ab 10 Jahre geschrieben.
Und auch hier wollen wir einmal kurz hineinlesen. Es geht um eine recht merkwürdige Feier: „Die Nacht war schon lange hereingebrochen. Auf einem riesigen Feld stand ein einzelner Baum. Warum er immer noch hier stand, wusste keiner. Noch war es nachts kalt. Eine sehr kleine, helle und augenscheinlich weibliche Gestalt näherte sich langsam dem Baum. Wenn ein Mensch sie beobachtet hätte, hätte er seinen Augen nicht getraut. Sie schwebte gut einen halben Meter über dem Boden und leuchtete im hellsten Weiß. Dadurch war in ihrer Umgebung alles erleuchtet. Kein Mensch konnte sie beobachten und das war so gewollt. Hier auf dem riesigen Feld weitab von den umliegenden Dörfern brauchte sie sich nicht umzusehen. Außerdem war es dunkel. In größerer Entfernung sah man das Leuchten nicht mehr. Es waren außerdem Vorkehrungen getroffen worden, die eine etwaige Beobachtung von nicht Eingeweihten erfolgreich verhinderten. Das tat man jedes Jahr an diesem Tag. Selbst als es vor vielen Jahren in der Nähe des Baumes auf dem Feldweg einen schweren Unfall gab, merkte niemand etwas von dem, was hier vor sich ging.
Die Gestalt berührte mit der rechten Hand den Baum und der trat einen Schritt beiseite. Eine nach unten führende Wendeltreppe wurde sichtbar, die die Leuchtgestalt betrat. Als sie von der Erdoberfläche verschwunden war, bedeckte der Baum wieder das Loch. Alles war erneut dunkel.
Die Wendeltreppe, die die kleine Gestalt hinunter schwebte, war lang. Je tiefer die Kleine kam, desto wärmer wurde es. Licht benötigte sie nicht, denn sie leuchtete selber. Noch weiter unten, hörte sie Musik, die immer lauter wurde. Als sie das Ende der Treppe erreichte, war die Musik ohrenbetäubend. Sie wollte weiter gehen, wurde aber daran gehindert. Plötzlich, wie aus dem Nichts, stand ein riesiger Hund vor ihr. Furchtlos sah sie das monströse Tier an.
„Wer bist du?“ Feindselig klang die Stimme des Hundes. „Das weißt du ganz genau.“ Belustigt sah sie ihn an. Das aber machte den Hund reizbar. „Ich habe dich hier unten noch nie gesehen“, knurrte er.
„Mag sein, aber deine Frage ist dumm. Du solltest nicht so ahnungslos tun. Das ist nicht gut für dich.“ „Das lass meine Sorge sein“, gab der Hund zurück „Was soll das jetzt werden?“ Sie wich keinen Millimeter.
„Nichts! Bleibt noch die Frage, was du hier willst!“ Das riesige Tier fletschte die Zähne. Sie verschränkte die Arme und blickte den Hund herausfordernd an.
„Meinst du, ich habe Angst vor dir?“ Der Hund ignorierte das. „Bleib bloß nicht zu lange hier.“ Gehässigkeit machte sich in der Stimme des Hundes breit. Die Kleine zuckte nun doch zusammen und holte tief Luft. Aber dann siegte ihre Gelassenheit. „Geh lieber beiseite. Ich kann dir erneut schaden.“ Angewidert gab der Hund den Weg frei. Sie ging weiter.
Hier unten waren viele Gäste. Über die Instrumente, die von den Musikern benutzt wurden, hätte sich jeder Uneingeweihte gewundert. Aber hier waren sie normal. Sie sahen wie riesige Meeresmuscheln aus. Die Personen, die an einer der langen Wände saßen und Musik machten, taten das, indem sie auf diesen Instrumenten unterschiedlichster Größen bliesen. Das Ganze war sehr laut und für die Gäste hörte es sich offensichtlich reizvoll an. Viele bewegten sich nach dieser fremdartigen Musik. Tanzen konnte man das aber nicht nennen, wie die neu Angekommene befand. Ein Büfett war an einer Seite des unterirdischen Saales eingerichtet worden und es kam immer jemand vorbei, der sich bediente. Sie beobachtete das mit Interesse, aber es schien sie nicht zu beeindrucken. Hier wurde gefeiert wie immer an diesem Tag. Selbst Störungen von außerhalb, wie einst der schwere Unfall, hatten keinen Einfluss darauf. Dabei hatte dieser Unfall auch hier für Aufsehen gesorgt. Eins hätte jedem Betrachter auffallen müssen, der sie hierher begleitet hätte. Ihr Leuchten war verschwunden und sie schwebte nicht mehr. Sie lief jetzt völlig normal. Dabei war sie kein gewöhnlicher Mensch und die anderen hier unten auch nicht. Aber sie war die Kleinste.
In den Ecken der riesigen unterirdischen Halle standen hohe Tische, um die sich die Gäste versammelten. Sie unterhielten sich angeregt. Manche hatten sich lange nicht gesehen und außerdem kamen jedes Jahr neue Gäste dazu. Das kindliche Wesen wollte gerade stehen bleiben und den Gesprächen lauschen, doch eine Stimme lenkte sie ab. „Du bist dieses Mal gekommen! Das freut mich. Wie lange hab ich dich nicht gesehen!“ Die Kleine wandte sich nicht um.“
Aber fragen Sie jetzt bitte nicht, wie und woher ein Fantasy-Autor auf seine Ideen kommt. Möglicherweise jedoch verfügt er über die seltene Gabe, Raben sprechen zu hören und hat sie ganz einfach ausgefragt. Oder es war auch ganz anders. Auf jeden Fall aber lesenswert. Und das ist doch die Hauptsache.