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Die Liebe und die Wandzeitung oder Entschlüsselungskunst mit C.U. Wiesner – Sieben E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

 

(Pinnow 17.02. 2017) Der erste der sieben aktuellen Deals der Woche der EDITION digital, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de acht Tage lang (Freitag, 17.02. 17 - Freitag, 24.02. 17) zu jeweils stark reduzierten Preisen zu haben sind, ist ein Kriminalroman. Er beruht zudem auf einem authentischen Fall. Auch ein zweites Buch führt in die Geschichte zurück. Im Angebot sind der zweite Teil einer Autobiografie, 99 Texte über die Ehe und einer über eine Scheidung sowie eine Wiederbegegnung mit einem Besucher aus dem Mittelalter und zwei wunderbare Bücher von dem Schriftsteller und Fotografen Wolf Spillner.

 

Die Druckausgabe von „Zu keinem ein Wort!“ von Günter Saalmann erschien 1993 im Kinderbuch-Verlag. Die Handlung setzt fünf Jahre früher ein: Sommer 1989. Noch scheint alles in Ruhe zu verharren. Doch es brodelt unter der Kruste. Dann wird Kordula, Tochter eines polnischen Nachbarn, überfallen; ein Hakenkreuz in ihre Haut geschnitten. Die Staatssicherheit vertuscht, wo sie vorgibt, zu ermitteln. Unschuldige werden verhört, diffamiert und ausspioniert, während die Neonazis immer dreister werden. Aber machen wir zunächst die Bekanntschaft von Kordula – aus der Sicht eines ihrer Klassenkameraden, der gewissermaßen aus Liebe zum Wandzeitungsredakteur wird. Aus Liebe zu Kordula:

 

„Kordula. Manche nennen sie „die Polin“. Kordula Przebylla. Von ihrem polnischen Vater hat sie das krause, ganz tief braune Haar, das elektrisch-blau sprüht, wenn Disko-Spotlights sich darin verfangen, die leicht gebogene Nase mit den beweglichen Nüstern. Das Sichelpaar ihrer schwarzen, wie vor Staunen gehobenen Brauen, das helle, ovale Gesicht. Alfred besitzt noch von seinem Großvater einen Bildband über den Maler Chagall. Dort gibt es solche Schneewittchengesichter, sanft und bestürzend. Kordel, das Biest. An ihr musste Alfred vor drei oder vier Jahren die Liebe erfahren. Das neue Gefühl traf ihn wie ein Boxhieb, als er beim Sportfest im Gras ihr Medaillon fand. Es war ein großer ovaler Porzellananhänger mit dem Christuskreuz darauf. Die geflochtene Lederschnur war korallenrot und gerissen, und ihn überkam der Wunsch, den Fund an die Wange zu drücken. Er schaute sich verstohlen um und tat es: Das Porzellan bewahrte noch einen Rest Wärme der Mädchenhaut. Er gab den Schmuck nicht sofort zurück, sondern legte ihn abends in einen Briefumschlag und verfasste - in Geheimschrift! - ein Gedicht. Es begann: Ich hab eine Kordel gefunden, damit ist mein Herz nun gebunden ... Wie glühte er damals für seinen feinsinnigen Einfall, die geflochtene Schnur, die ja eine Art Kordel war, mit dem Vornamen der Trägerin dichterisch zu verknüpfen!

 

Übrigens bekam sie bereits in der siebenten Klasse ihren Busen, von dem heutzutage die Männer Froschaugen kriegen. Der schon damals beim Sportfest beträchtlich hüpfte, zusammen mit dem Medaillon an der korallenroten Kordel. Das Gedicht endete in einer gereimten Leseanweisung für die Geheimschrift. Er hat in den Umschlag noch eine Handvoll Gummibärchen getan, von denen er wusste, dass Kordula sie fleißig aß, weil den Mädchen angeblich davon kräftige Fingernägel wuchsen. Die Nägel sind ihr gewachsen. Von seinem poetischen Erguss hat sie wahrscheinlich nicht Kenntnis genommen. Konnte sie nicht, denn die Leseanweisung war versehentlich ebenfalls in Geheimschrift aufgeschrieben. Ja, er war durcheinander, damals. Spätere Gedichte, hauptsächlich über die Jahreszeiten Herbst und Winter - hat er nicht mehr in Geheimschrift notiert. Sie zeigten denn auch Wirkung, und zwar öffentliche: Man wählte ihn alljährlich zum Wandzeitungsredakteur, froh, einen Trottel gefunden zu haben. Alfred lächelt müde. Vom Thema Liebe hat er seitdem die Finger gelassen, schriftlich und überhaupt.

 

Er weiß inzwischen, dass einer wie er bei einem Mädchen wie Kordula nichts ausrichten wird. Wie sollte er auch. Ein Stino von sechzehneinhalb, der sich alle sechs Wochen rasiert, mit dem lächerlichen Namen Alfred Donner, aber ohne Spitznamen (Ein Spitzname würde wenigstens auf irgendeine Art Originalität hindeuten.), untersetzt, mit einer Nase, die einmal - genetische Erblast - kartoffelig wird, mit einer aschblonden Haartolle über der Schläfe, die aussieht wie eine Cremerolle vom Konditor. Ach, Kordel.“

 

Wiederum zweihundert Jahre zuvor und zwar in Frankreich, und ebenfalls in unruhigen Zeiten, spielt die 1989 im Kinderbuchverlag Berlin erschienene Erzählung „Luc und die Wölfe von Paris“ von Ulrich Völkel: Aux armes! Zu den Waffen! hallt es durch Paris. Der König hat den Finanzminister Necker entlassen, von dem die Franzosen geglaubt hatten, er werde mit der Verschwendungssucht des Hofes und der Misswirtschaft im Lande fertig. Von Luc erfahren die Pariser, wo das Pulver für ihre Gewehre zu holen ist. Auf zur Bastille! Am 14. Juli 1789 wird dieses Symbol der verhassten Despotie gestürmt. Die Große Französische Revolution hat begonnen. Aber wer ist eigentlich Luc? Lesen wir kurz in den Anfang dieser Erzählung hinein: „Luc war ein Bursche von vierzehn Jahren. Er lebte in Paris. Seinem Vater gehörte die Bäckerei in der Rue St. Antoine, unweit der drohend aufragenden Bastille, der gefürchteten Festung inmitten der Stadt. Lucs Mutter lebte nicht mehr. Sie war kurz nach seiner Geburt verstorben. Den Haushalt versorgte Margarete, eine Deutsche. Sie half auch in der Backstube, und sie stand hinterm Ladentisch. Obwohl sie schon mehrere Jahre in Frankreich lebte, hatte sie noch immer Mühe, einen französischen Satz fehlerfrei zu sprechen. Aber sie war fleißig und demütig, das wusste der Bäcker zu schätzen. Und sie war gut zu Luc; zu gut, wenn man seinen Vater fragte, der ein harter Mann war.

 

Luc war größer als die meisten Jungs seines Alters, aber blass und spitznäsig, weshalb er von den anderen gehänselt wurde. Sie nannten ihn Baguette, weil er aussah wie ein von seinem Vater gebackenes, dünnes, superlanges Weißbrot. Aber Luc bekam diesen Spottnamen selten zu hören, denn er brachte die meiste Zeit in der Backstube zu. Sein strenger Vater war der Meinung, Luc könnte nicht früh genug das Bäckerhandwerk erlernen. Immer wieder sagte er: „Mir hat Arbeit auch nicht geschadet. Hätte mich mein Vater nicht rechtzeitig daran gewöhnt, wäre ich so ein armer Schlucker geblieben, wie es die sind, für die sich unsereiner die halbe Nacht um die Ohren schlagen muss.“ Und er sagte das mit solchem Nachdruck, als sei die Armut der Lohnarbeiter in Paris die Folge ihrer Faulheit.

 

Luc, der nie etwas anderes zu hören bekam von seinem Vater als solche Reden, glaubte ihm schon aus Angst; denn so arm sein, wie es die meisten Menschen in seinem Viertel waren, wollte er wahrhaftig nicht. Und er glaubte seinem Vater auch deshalb, weil er sich das Elend ringsum nicht anders hätte erklären können. Was wusste ein Junge wie Luc im Paris des Jahres 1789 von der Verschwendungssucht des Königshauses, den unseligen Kriegen und der landesweiten Misswirtschaft, den wirklichen Ursachen des wuchernden Elends? Nichts konnte er wissen. Die Welt war so, wie sie war. Und sie war, wie sie Gott eingerichtet hatte. Das sagte der Pfarrer. Das sagte der Vater. Margarete hütete sich, etwas anderes zu erzählen, falls sie überhaupt eine Erklärung gewusst hätte. Und Gaston, der einstige Geselle, war nicht mehr da.

 

Wenn der Vater frühmorgens aufstand, hatte Margarete in der Backstube bereits Feuer gemacht, einen Gerstenkaffee aufgebrüht und den Laden ausgefegt. Früher hatte Luc geglaubt, die Erwachsenen schliefen nie; denn wenn er sich abends hinlegte, waren sie noch wach, um den Teig anzusetzen, und wenn er frühmorgens die Augen aufschlug, arbeiteten sie bereits seit drei Uhr in der Backstube oder im Laden.

 

Von seinem zwölften Lebensjahr an lernte Luc diesen Rhythmus aus eigener Erfahrung kennen, denn sein Geburtstagsgeschenk hatte darin bestanden, dass er von nun an mit seinem Vater aufstehen musste, um in der Backstube zu arbeiten wie ein Erwachsener.“

 

 

Nach diesen beiden historischen Texten folgt der zweite Teil einer Autobiografie, die 1985 erstmals im Eulenspiegel Verleg Berlin veröffentlichte und für das E-Book 1989 veränderte Fassung von „Leb wohl, Rapunzel. Elf Kapitel aus der Jugendzeit“ von C.U. Wiesner. Dazu schrieb der Autor selbst Folgendes: In der Havelstadt Brandenburg endeten meine Kindheitserinnerungen „Machs gut Schneewittchen“. Und genau da geht es nun weiter. Das Kriegsende naht. Den letzten schweren Luftangriff erlebe ich in einem Hochbunker. Und plötzlich sind die gefürchteten Russen da. Der deutsche Kampfkommandant weigert sich zu kapitulieren. Lieber opfert er die Stadt. Vorbei an den ersten Toten, die ich in meinem zwölfjährigen Leben sehe, geht es hinaus auf einen Flüchtlingstreck. In einem märkischen Dorf hören wir im Reichsrundfunk die Meldung, dass unser heiß geliebter Führer an der Spitze seiner Truppen in heldenhaftem Kampf gefallen sei. Nur den schwachsinnigen Alwin aus unserer Straße freut das: Wenn der abjekratzt is, kann er mir nich mehr wechholen lassen, sagt mein Pappa.

 

Nach dem Abitur versucht mich die Großstadt Berlin an ihren gewaltigen Busen zu drücken. Diese Liebe ist zunächst einseitig, nicht aber meine Liebe zu Luise, die nun für ein Jahr im Städtischen Dolmetscherseminar neben mir sitzt. Voller Seligkeit paddeln wir im Faltboot durch die märkischen und mecklenburgischen Seen, wandern den Rennsteig entlang und spuken auf der Burg Falkenstein im Harz herum. Alles könnte gut sein, wäre da nicht die noch mauerlose Stadtgrenze. Jede Woche zweimal besucht Luise, die in Wirklichkeit Annegret heißt, in Westberlin den Gottesdienst einer christlichen Sekte, und ich bemühe mich, ihr in ihrem Glauben zu folgen. Warum soll ich mir kein Beispiel an dem französischen König Henri IV. nehmen, der zum katholischen Glauben übertrat, weil ihm Paris eine Messe wert war? Man braucht ja nur 20 Pfennige für eine S-Bahnkarte, um das Land zu wechseln.

 

Voller Zweifel setzte ich mich im Sommer 1955 allein auf mein Fahrrad, um jene andere Welt zu erkunden. Begeistert sah ich die Alpen, den Bodensee, den Schwarzwald - und fuhr zurück in das schäbige, graue und doch so vertraute Ostberlin. Für mich wollte das Wasser nicht von unten nach oben fließen. Viel, viel später las ich Christa Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“. Und ich heulte ein bisschen.

 

Aber die Show musste weitergehen. Ich war Redaktionsassistent, Hilfsredakteur, Redakteur in den Verlagen Volk und Wissen, Volk und Welt und wurde schließlich Lektor im Eulenspiegel Verlag, und der brachte dieses Buch genau dreißig Jahre nach jener Radtour heraus.

 

Und zur Einstimmung in den zweiten Teil seiner Autobiografie fügen wir auch noch die Vorbemerkung des Autors zu seinem Buch hinzu: „Wenn ich mich recht entsinne, ist in dem Grimmschen Märchen von einer schönen blonden Jungfrau die Rede. Ein böses altes Weib hält Rapunzel in einem Turm unter Verschluss und bedient sich ihres langen Zopfes, um die Zinne zu erklimmen.

 

Hinter dieses Geheimnis kommt ein junger Königssohn und entbrennt in heißer Liebe zu der anmutigen Hexengefangenen. Statt der alten Knuspermutter wird eines Tages er unter dem Turmfenster stehen und kühn hinaufrufen: Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!

 

Wir wollen dem Kind mit dem vegetarischen Namen so viel Verstand zutrauen, dass es vorsichtshalber in die Tiefe geschaut hat, als es die fremde Stimme vernahm. Also kann es kein Irrtum gewesen sein, dass Rapunzel dem Prinzen Gelegenheit bot, den seltsamen Vorläufer eines Personenaufzuges zu benutzen, ja, wir müssen sogar sagen, sie hat den Grund allen späteren Leides eigenhändig an den Haaren herbeigezogen.

 

Vorerst aber wird weder von Kummer noch von Leid die Rede sein. In der vielleicht sogar mit Bärenfellen behaglich ausgestatteten Kemenate herzen und küssen die beiden einander - wie es in Märchen immer so züchtig heißt - mit großem Verlangen. Doch wohin soll das führen? Da wir geneigt sind, weder Rapunzeln noch den Prinzen bei aller Liebestollheit für völlig bescheuert zu halten, sollten wir annehmen, dass sie in den unvermeidlichen Pausen zwischen all dem Herzen und Küssen auch einmal über ihre persönliche Perspektive nachgedacht haben.

 

Wer will bezweifeln, dass sich auf einem Turm fernab einer geschäftigen und der Liebe nicht immer holden Welt gut schmusen lässt? Aber die Frage beutelt uns geradezu: Wie, ja wie denn nur wird es mit den beiden weitergehen?

 

Dass sich Rapunzel und ihr Gespons nur im Turmzimmer getroffen hätten, ist nichts als eine Legende. Mit der Zeit wurde dem Königssohn der Aufstieg viel zu sauer; schon als Oberschüler hatte er es in den Fächern Seil- und Stangenklettern nur zu einem Mangelhaft gebracht. Lag es nicht viel näher, Rapunzeln, die übrigens ein durchaus sportlicher Typ war, zu überreden, sich wie ein Bergsteiger am Seil an ihrem eigenen Haar herabzulassen? Es dauerte nicht lange, da übertraf sie an Gewandtheit und Kraft jenen Baron von Münchhausen, der sich wer weiß was auf die armselige Fertigkeit einbildete, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf herausziehen zu können.

 

Gekriegt haben sich Rapunzel und der sogenannte Prinz freilich nie. In unserem Falle begegnete nach siebenundzwanzig Jahren der nicht mehr junge Prinz seinem Rapunzel von einst wieder. An einem Sonnentag im Mai umrundeten sie den märkischen wie auch Westberliner Schlachtensee, nicht mehr Hand in Hand wie damals, sondern sorgfältig die Worte wählend und setzend. Vorschlag an den Leser: Wir nennen Rapunzel im folgenden meistens Luise, obwohl sie eigentlich ganz anders hieß und heißt, und finden uns damit ab, dass sie uns erst in einem späteren Kapitel des Buches wieder über den Weg läuft. Übrigens wird auf den folgenden Seiten so manche Figur oder Institution einen anderen Namen tragen als in der Wirklichkeit.

 

Als erste Entschlüsselungshilfe: Die Stadt B. liegt an der Havel, verfügt über einen Roland sowie ein Stahlwerk; ein Barbier namens Fritze Bollmann pflegte auf dem dortigen Beetzsee zu angeln.“

 

 

Mitunter wird aus Liebe … eine Ehe. In seinem bereits 1978 im Mitteldeutschen  Verlag Halle – Leipzig erstmals erschienenen Buch „99 Ehen und eine Scheidung“ hat sich Karl Sewart über diese Institution so seine Gedanken gemacht: 99 Ehen sind auch für einen potenten Zeitgenossen zuviel des Guten. Hier liegt kein Leitfaden der Ehekunst vor, sondern der Autor bietet Beispiele für jene kleineren und größeren Misshelligkeiten, die das Zusammenleben von Mann und Frau manchmal so schwierig machen, er bietet Beispiele, die dieses Beieinander auf vergnügliche Weise zeigen. Man lese das Buch nach einem Ehestreit, anstelle eines Ehestreites, in Maßen und nicht wie einen Roman.

 

Wer will, darf die letzte Seite zuerst aufschlagen und in der Lektüre seine Erfahrungen beitragen zu einem Thema, das hier kurzweilig und problemreich vorgeführt wird.

 

Karl Sewart behandelt das so problemreiche Thema Ehe auf recht kurzweilige Art. All die vielen größeren und kleineren Möglichkeiten, die das Zusammenleben zwischen Mann und Frau manchmal arg trüben können, werden hier in komisch-ironischer Verkürzung vorgeführt. Der Autor zeichnet seine Ehe-Porträts mit knappen, kräftigen Strichen, ihre Wirkung beruht auf komischer Übertreibung und Vergröberung. Lachend könnte deshalb mancher Leser nachzudenken beginnen, wenn er sich in diesem oder jenem Porträt abgebildet finden sollte.

 

Und hier folgt eines von 99 Ehe-Porträts – über die „Bücher-Ehe“: Ja, früher, da las er gar nicht gern ... Da las er kaum das, was der Lehrer verlangte, und das war alles schrecklich langweilig ...

 

Doch da saß er eines Tages neben ihr im Zug ... Und vor lauter Langeweile fing er an, mit in dem Buch zu lesen, das sie auf ihrem Schoß liegen hatte. Und je länger er las, um so dichter rückte er an sie heran, um sich ja keine Silbe entgehen zu lassen, und um so mehr wunderte er sich darüber, wie er das Lesen hatte für so etwas Langweiliges halten können, und er verwünschte noch nachträglich seine ganze bisherige Jugend, weil man ihm da niemals ein so interessantes Buch zu lesen aufgegeben hatte ... Doch da klappte sie mit einem Mal das Buch zu und stieg aus! Und er, er wusste nicht, wie es weiterging, das Buch, er war ja nicht einmal bis zur Mitte gekommen, und auch der Anfang vorn, der fehlte ihm ja noch! Was sollte er machen, was blieb ihm anderes übrig, er stieg mit aus und ging mit nach Haus und las ihr Buch beim Schein ihres Nachttischlämpchens zu Ende ...

 

Als er aber schließlich auf der letzten Seite angelangt war, da gestand sie ihm, dass sie noch viel, viel mehr Bücher zum Lesen habe als nur das eine ... Und wenn er jetzt mal verreisen muss, da gibt sie ihm immer genug zu lesen mit ...“

 

Und jetzt geht es noch einmal zurück in die Gegenwart und zugleich ins Mittelalter. Wie das möglichst ist? Schauen Sie einfach mal in das 2003 im Deutschen Taschenbuch Verlag veröffentlichte Buch „Gisbert der Klarsichtige“ von Maria Seidemann: Peggy und Paul staunen nicht schlecht, als Gisbert, der tollpatschige Knappe aus dem Mittelalter, bei ihnen auftaucht. Über ein geheimes Zeitloch in der alten Burgruine ist er in die Jetzt-Zeit gelangt und will bei den Geschwistern bleiben. Na ja, eigentlich würde er genauso gerne ein ruhmreicher Ritter in seiner eigenen Zeit werden - aber er sieht nun mal so schlecht! Für Peggy und Paul steht fest: Erst einmal braucht Gisbert eine Brille, so kann er vielleicht doch noch seine mittelalterlichen Abenteuer bestehen. Doch dann überredet Gisbert Paul, mit ihm in die gefährliche Ritterzeit zu kommen ...

 

Ein neues spannendes Abenteuer mit Gisbert nach „Gisbert der Kurzsichtige“

 

Auf einmal ist Gisbert wieder da. Und dafür gibt es gut oder besser gesagt, schlechte Gründe: „In der Nacht hat es geregnet. Die Morgensonne scheint auf die feuchten Steinplatten in der Fußgängerzone, Dunstwölkchen schweben über den Pfützen. Gelbe, herzförmige Blätter taumeln von den Linden am Markt.

 

„Der Sommer ist endgültig vorbei“, mault Peggy. Sie schlenkert ihre Schulmappe am Schulterriemen und stößt bei jedem zweiten Schritt missmutig mit dem Fuß gegen den Bordstein. Paul zuckt mit der Schulter. „Na und? In vier Wochen sind schon wieder Herbstferien.“

 

Er zieht seine Schwester beiseite, weil ihnen ein Gabelstapler entgegenkommt. Der Stapler hat einen Turm Tomatenkisten geladen und kurvt geschickt zwischen den Marktständen hindurch. Plötzlich ein dumpfer Knall! Holz splittert, eine Frau schreit auf.

 

Erschrocken drehen sich Paul und Peggy um. Die ganze Ladung Tomaten ist auf die Steinplatten gekippt! Zerbrochene Kisten liegen zwischen roten, matschigen Haufen. Quer über den Markt flüchtet eine dünne Gestalt mit flatternden, schulterlangen Haaren. Die Gestalt trägt ein graues, knielanges Hemd, Ledersandalen und am Gürtel einen Dolch. Verblüfft reißen die Geschwister die Augen auf.

 

„Das ist doch ...“, murmelt Paul und schiebt seine heruntergerutschte Brille hoch. „Gisbert!“, schreit Peggy und rennt der Gestalt nach, die in der Rathauspassage verschwunden ist. Sie holen Gisbert vor der Tiefgarage ein. Er scheint sich gar nicht zu wundern, dass er ihnen hier begegnet.

 

„Ich habe euch so lange gesucht!“, sagt er vorwurfsvoll und außer Atem von seiner Flucht vor dem Tomatenfahrer. „Gestern habe ich den ganzen Tag vergebens vor eurer Schule gewartet.“

 

Peggy verdreht die Augen. „Gestern war doch Sonntag! Was machst du überhaupt hier? Wieso bist du nicht zu Hause in deiner Burg? Bist du etwa abgehauen? Durch das Zeitloch?“

 

Gisbert nickt nur. Schweigend stehen sie einander gegenüber - die Geschwister und der Knappe Gisbert aus dem Mittelalter. Ein unbehagliches Gefühl ergreift von Paul Besitz. Gisberts Auftauchen bringt bestimmt Ärger und einen gewaltigen Haufen Probleme - wie damals in den Sommerferien, als sie Gisbert zum ersten Mal getroffen haben. Als sie zufällig in der Burg das Zeitloch entdeckten und sich plötzlich im zwölften Jahrhundert wiederfanden. Als Gisbert schwer krank wurde und nur deshalb am Leben blieb, weil sie ihn durch das Zeitloch mit in die Gegenwart nahmen und ins Krankenhaus brachten. Paul bekommt jetzt noch Herzklopfen, wenn er an die Gefahren und Verwicklungen zurückdenkt, die sie bewältigen mussten, bis jeder wieder dort war, wo er hingehörte: Gisbert im Mittelalter und die Geschwister zu Hause, in der Gegenwart, in Sicherheit. „Ich wollte mir doch nur etwas zu essen kaufen“, sagt Gisbert. „Mich hungert so! Ich habe den Wagen nicht gesehen, und die Kisten mit den roten Früchten sind gleich umgekippt, als ich dagegen gestoßen bin.“

 

Paul kann sich gut vorstellen, wieso Gisbert den Gabelstapler nicht gesehen hat. Schließlich hat er selbst bei seinem unfreiwilligen Aufenthalt in der Burg miterlebt, wie kurzsichtig Gisbert ist. Er müsste eine Brille tragen, denkt Paul, genau wie ich. Nur leider waren die Brillen im zwölften Jahrhundert noch nicht erfunden.

 

Peggy wühlt in ihrer Schulmappe und hält Gisbert die Frühstücksbox hin. „Du hast Glück, dass unsere Eltern verreist sind. Unsere große Schwester Katrin kümmert sich nicht drum, was wir als Schulfrühstück mitnehmen.“ In der Schachtel liegen Schokoriegel, eine Keksrolle und eine Banane. Gierig greift Gisbert zu. Paul fragt: „Warum hast du uns gesucht? Warum bist du aus dem Mittelalter abgehauen? Was willst du hier?“ „Burggraf Berko ist tot«, antwortet Gisbert kauend. „Er ist bei dem Kaiserturnier schwer verletzt worden und an seinen Wunden gestorben. Herrin Ingeborg trauert um ihn und kümmert sich überhaupt nicht mehr um mich. Auf der Burg geht alles drunter und drüber. Der Mönch Eilif hat die Macht an sich gerissen. Er benimmt sich, als wäre er der Herr. Schon wochenlang hat er mir keinen Unterricht mehr erteilt. Er schikaniert mich und ermuntert das Gesinde, mich zu verspotten.“ „So ein Mist!“, murmelt Peggy mitfühlend. „Aber dein Vater“, erinnert sich Paul. „Herzog Albin war doch unterwegs zu Berkos Burg! Haben eure Diener keine Angst, dass dein Vater sie bestraft?“ „Mein Vater ist nicht eingetroffen“, sagt Gisbert. „Wir haben keine Nachricht mehr von ihm bekommen. Wahrscheinlich ist er überfallen und getötet worden. Und Bruder Eilif denkt jetzt, er kann tun, wonach es ihn gelüstet.“ Auf der anderen Straßenseite bremst ein Fahrrad mit auffälligem Zebramuster. Der Fahrer ist ein Junge mit dunklen Locken. „He, Peggy, du hast ja heute die Ruhe weg!“, ruft er. „Willst du dich vor dem Mathetest drücken?“ „Verdammt“, zischt Peggy. „Hab ich total vergessen! Carlo, du musst mich mitnehmen!“ Sie rennt über die Straße, schwingt sich hinter Carlo auf den Gepäckträger und klammert sich an ihm fest. Schnaufend tritt Carlo in die Pedale. „Ich komme bestimmt auch zu spät“, sagt Paul hastig. „Ich muss ins Museum, heute ist der erste Tag von unserer Projektwoche!“ „Was immer dieses Wort bedeuten mag“, antwortet Gisbert, „ich komme mit dir.“ Entsetzt wehrt Paul ab. „Kommt nicht infrage!“ Gisbert schaut ihn traurig an. „Ich verstehe. Du schämst dich für mich, weil auch du mich für ungeschickt hältst. Dabei weißt du doch, dass ich kein Tölpel bin - ich sehe nur schlecht! Und ich dachte, du bist mein Freund ...“

 

 

Folgt zum Schluss noch eine Einladung zu zwei Büchern des Schriftstellers und Fotografen Wolf Spillner. Das 1987 erstmals im Kinderbuchverlag Berlin erschienene Fotobuch „Der Alte vom Hammer“ berichtet von einem kleinen Mädchen: Corinna wird von ihren Mitschülern aus der 3. Klasse beneidet. Ihr Vater ist Wildhüter und nimmt sie oft mit in die Berge. Die Sennen haben gesehen, dass der alte Steinbock lahmt. Wird es so schlimm sein, dass ihn der Wildhüter erschießen muss, weil er mit seiner Verletzung nicht überleben kann? Corinna darf den Vater bei der gefährlichen und anstrengenden Suche nach dem Alten begleiten und bangt um sein Leben. Wolf Spillner bereicherte diese schöne Geschichte mit wunderbaren Fotos.

 

Und so beginnt diese Geschichte: Am Abend, als Corinna zu Bett gehen soll, klingelt das Telefon. „Wer mag so spät noch anläuten“, wundert sich die Mutter. „Das ist gewiss mein Chef!“ Vater Konrad, der Wildhüter, nimmt den Hörer ab.

 

„Grüazi“, sagt er, „ja, ja!“ Er nickt und lauscht. Dann schüttelt er den Kopf, und die Falten in seinem braunen Gesicht werden tiefer. Er sieht bekümmert und traurig aus. „Ja“, sagt er noch einmal, „ich steig gleich morgen auf. Ich melde mich dann. Gute Nacht auch!“ Er legt den Hörer zurück.

 

Es ist still in dem alten Haus zwischen den Bergen, und die Mutter und Corinna sehen den Vater fragend an. „Morgen muss ich zum Hammer hinauf“, sagt er. „Die Steinböcke sind fortgezogen. Die Sennen wollen gesehen haben, dass der Alte lahm geht. Sicher gab es einen Steinschlag.“

 

„Zu den Steinböcken?“ Corinnas Augen leuchten. „Nimmst du mich wieder mit?“ Der Vater schüttelt den Kopf. „Morgen nicht. Ist zu schwer für dich. Das wird kein Spaziergang. Und vielleicht muss ich den Alten sogar schießen!“ „Nein, nur das nicht! Nimm mich mit, ich kann doch gut klettern!“

 

„Zu zweit seht ihr mehr“, steht die Mutter ihr bei. „Na gut“, sagt der Vater endlich und geht noch mal aus dem Haus. Am Morgen ist es kühl, aber ein blauer Sommerhimmel spannt sich über das Tal. Die Berge haben strahlende Kappen aus Schnee und Eis. Das Eis auf den Gipfeln ist hart und schwer. Es schiebt sich in dicken Gletscherzungen herab. Seit vielen Tausend Jahren schon. Sonne und Regen lecken an den Gletscherenden, und das Eis stöhnt und ächzt. Es spaltet in tiefe Risse auf, aus denen das Schmelzwasser tropft. Die Tropfen sammeln sich zu Bächen, die Bäche vereinen sich, reißen die Steine mit sich und zerreiben die Steine zu Grus. So schneidet das Wasser kleine und große Täler in die Berge.

 

„Das Wetter ist gut“, sagt der Vater, „und es bleibt auch so!“ Er hat die Eisgipfel lange gemustert. Dann trägt er die Rucksäcke zum Auto, und er verstaut sein Gewehr. Die Mutter winkt ihnen nach, und schon rollen Corinna und Wildhüter Konrad auf der Asphaltstraße an den alten, hölzernen Viehställen vorüber, am Rotten entlang. Der Fluss rauscht und gurgelt laut. Sein Wasser springt unter einem Riesengletscher hervor, weit über ihrem Dorf Oberwald. Flussabwärts wird er Rhone genannt. Später fließt die Rhone durch das Nachbarland Frankreich, ehe sie breit und mächtig ins Mittelmeer mündet. In der Schule lernt man solche Sachen, zumal Corinna in der dritten Klasse ist. Jetzt aber sind große Sommerferien, und zu gerne begleitet sie den Vater zur Arbeit. Die großen Jungen beneiden Corinna. Wer hat denn einen Vater, der Wildhüter ist, zeigt, wo die scheuen Adler ihr Nest in der Felsenwand haben und wo die stärksten Gämsen ziehen. Und auch Steinböcke hat sie mit ihm gesehen. Was aber mag mit dem Alten geschehen sein? Er ist doch der beste und stärkste von allen. Corinna grübelt, während der Vater das Auto stumm durch das nächste Dorf steuert. Dort biegt die Straße zur Passhöhe ab, zum Übergang in das Land Italien. Die Straße windet sich zick und zack zwischen den Bergen hinauf. Corinna sieht einmal steile Wände vor sich und dann wieder das Tal, tief unten, mit den alten Holzhäusern. Sie drängen sich um den Kirchturm wie eine Hühnerschar. Oder wie eine Schafherde im Wind und werden immer kleiner, je weiter das Auto die Straße hinaufkriecht.

 

Der erstmals 1979 ebenfalls im Kinderbuchverlag Berlin veröffentlichte Band „Der Bachstelzenorden“ enthält fünf Erzählungen: Gäbe es ihn, Hannes hätte ihn verdient: den Bachstelzenorden. Und nicht nur, weil er Stapellauf, Auszeichnung und Fernsehkamera davonlief, um ein Bachstelzennest zu retten. - Eines Tages hält Gustav seine Lok vorschriftswidrig an. Seltsam, denkt er, dass die Vögel nicht nach der Seite davonfliegen, sondern immer gegen die fahrende Lok prallen und sterben. Und er beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen.

 

Wolf Spillner hatte als Junge den großen Wunsch, einen Hund zu besitzen. Der erfüllte sich schließlich, doch was dann geschah, ist ihm auch heute noch Anlass, in seinen Geschichten von Menschen und Tieren zu erzählen, von keinen besonderen Menschen und keinen exotischen Tieren, sondern solchen, denen man überall begegnen kann, schaut man nur richtig hin.

 

Ganz vorn im Buch steht die Erzählung „Falkengustav“: „Die E-Lok kommt erst hinter der Brücke zum Halt. Die Bremsen quietschen und pfeifen, und die Drähte über den Bügeln der Stromabnehmer schwingen und zittern. Gustav Magerbrot schiebt die Tür des Führerstandes auf, sieht nach links und nach rechts, klettert zögernd die eiserne Leiter der Lokomotive hinunter und springt auf das Schotterbett. Er starrt unentschlossen zur Brücke zurück. Er bereut schon, den Zug zum Halt gebracht zu haben. Aber er rennt doch los. Die Steine klirren und scheppern unter seinen Schuhen gegen die Schwellen.

 

Der Zug ist lang - offene und geschlossene Güterwagen. Schwarz glänzende Kohle ist in die Waggons geschüttet, Frachtgut in Kisten gestapelt, und auf drei Spezialwagen funkeln übereinander rote und sandfarbene Skodalimousinen. Der Lokführer hastet stolpernd auf dem Nebengleis zur Brücke. Dass kein anderer Zug kommen kann, weiß er. Und niemand wird ihn hier oben sehen, denn die Straße liegt tief unter den mächtigen Bögen der Steinbrücke im Tal. Vor den letzten Waggons wird ihm die Luft knapp. Das Ende des Zuges steht noch auf der Brücke. Wo das Geländer beginnt, dort mag es passiert sein, bei der Birke.

 

Gustav Magerbrot muss tief atmen, wischt die Stirn mit dem Taschentuch trocken und zieht sich die Hose hoch, die unter den Bauch gerutscht ist. Er ist klein und dick, und Hast ist ihm ein Gräuel. Er steigt die Böschung hinunter auf die Birke zu. Da stehen das Gras und die Nachtkerzen mit ihren blassen Blüten dicht und hoch, noch feucht vom Tau der Nacht. Er versinkt bis zum Gürtel darin. Hastig sucht er im nassen Grün. Es duftet scharf und streng - ganz fremd für ihn. Er ist mit der trockenen Wärme seiner Lok vertraut und dem leisen Hauch von Maschinenöl. In seinem Führerstand ist es immer peinlich sauber. Er ist sehr genau, und er hält den Fahrplan ein. Monat für Monat hängt sein Bild auf der Tafel der Besten vor dem Bahnhof. Was bin ich bloß für ein Narr, denkt Gustav Magerbrot. Der Gegenzug muss warten - das gibt Ärger! Aber ist er schon mal losgelaufen, will er jetzt auch weitersuchen. Hier an der Birke muss es doch gewesen sein. Er schiebt das Gras zur Seite und biegt die Zweige der niedrigen Büsche hoch.

 

Da sieht er ihn. Er lebt noch! Seine Augen sind dunkel und rund wie glänzende Tollkirschen und voller Angst. Hastig greift Gustav Magerbrot zu, zieht aber die Hand sofort wieder zurück. Der Vogel da unter der Birke hat sich auf den Rücken geworfen. Er kickert mit gellender Stimme und schlägt mit gelben, dolchbewehrten Füßen nach seiner Hand. So ein Teufel, denkt Gustav Magerbrot, zieht die Jacke aus, wirft sie über den Vogel und klemmt sich den Wehrlosen unter den Arm. Er zappelt noch, als er mit ihm auf den Bahnkörper zurückkriecht. Doch er beruhigt sich und rührt sich nicht mehr, als der Lokführer den Zug entlang zu seiner Maschine hastet und pustend die Leiter zum Führerstand hochklettert.

 

Gustav Magerbrot schiebt die Tür sorgfältig zu, kniet sich auf den Boden und nimmt die Jacke vorsichtig auseinander. Der Vogel sitzt zusammengekauert da. Ein Flügel hängt schräg zur Seite hinunter. Der Schnabel ist krumm und an seiner Wurzel gelb wie Kerzenwachs. Das Gefieder sieht wie Zimt aus. „Kann dich doch nicht verrecken lassen“, murmelt der Lokführer zur Entschuldigung. Er macht seine alte Aktentasche auf, nimmt die Thermosflasche heraus und greift dann den Vogel rasch und behutsam, ehe er sich wehren kann. Hier in der Lokomotive wirkt er viel kleiner und zierlicher als draußen unter den Büschen. Er ist nicht mal so groß wie eine Taube. In der Tasche hat er bequem Platz, und Luft bekommt er auch genug.

 

Wurde Zeit, dass ich mich drum kümmere, denkt Gustav Magerbrot und setzt den Zug langsam in Bewegung. Er hat genau neuneinhalb Minuten auf der Strecke gestanden. Der Blick auf die Armbanduhr sagt es ihm. Die verlorene Zeit könnte er vielleicht wieder aufholen. Er kennt seine Strecke. Er weiß, wie er die Kurven angehen muss, versteht sich darauf, die Steigungen aus dem Schwung der Talfahrt so zu nehmen, dass die zweitausend Pferdestärken seiner E-Lok ausreichen, um die Geschwindigkeit auch am Berg noch zu halten. Ohnehin ist die Heimfahrt immer die leichtere Tour der Strecke. Die meisten Kehren zwischen den Bergen liegen hinter ihm, die beiden großen Brücken hat er passiert. Eine knappe Stunde noch, und er ist im Heimatbahnhof. Dann so schnell wie möglich nach Hause! Mit dem Vogel in der Tasche. Der hat sich wohl einen Flügel gebrochen. Ein Wunder, dass er am Leben geblieben ist. Wirklich ein Wunder!“

 

 

Und damit sind wir am Ende des heutigen Newsletters angelangt und sie haben Zeit, sich dem Wunder des Lesens zu widmen. Angebote dafür gibt es genug. Am besten, Sie nehmen sich ein, zwei oder auch drei Titel, setzen sich in eine ruhige Ecke und lesen los. Und ansonsten: Zu keinem ein Wort!

 

 

DDR-Autoren: Newsletter 17.02.2017 - Die Liebe und die Wandzeitung oder Entschlüsselungskunst mit C.U. Wiesner