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Verrückte Geschichten, Napoleon in Dresden, Kurbel in Kattuhn und andere Erinnerungen – Sieben E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 06.10. 2017) Auf den ersten Blick ist es schwer, eine oder auch zwei Gemeinsamkeiten der sieben Deals der Woche zu finden, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de eine Woche lang (Freitag, 06.10. 17 – Freitag, 13.10.17) zu jeweils stark reduzierten Preisen zu haben sind. Dazu scheinen die Zeiten und Orte der jeweiligen Handlung zu unterschiedlich zu sein. So lässt uns Siegfried Maaß an einer merkwürdigen Beziehung zwischen einer noch jungen Lehrerin und einem ihrer Schüler teilhaben, der auf eine verrückte Idee kommt – verrückte Geschichten schreibt das Leben mitunter. Mit dem Leben des später berühmten Malers Adrian Ludwig Richter, der schon als kleiner Junge vom Glück ohne Ende träumt, befasst sich Ingrid Möller. Ebenfalls von Malern, aber auch von großer und kleiner Politik in einer großen und bedeutenden deutschen Stadt Anfang des 16. Jahrhunderts – also kurz nach dem Ende des Mittelalters – erzählt Renate Krüger.

 

Zwei Bücher über junge Leute in der DDR, die beide sogar von demselben DEFA-Regisseur verfilmt worden waren, steuert Joachim Nowotny bei. Spannend wie immer schreibt Wolfgang Schreyer über einen Mann und seine mehrfachen Leben. Gerade steht er vor einer ganz neuen Herausforderung. Und schließlich geht es noch einmal um Träume. Mit der gebürtigen Königsbergerin Elisabeth Schulz-Semrau besuchen wir zum dritten Mal ihre ostpreußische Heimatstadt und erfahren von Lebensschicksalen „russischer und deutscher Kinder aus den letzten Kriegstagen und den sich anschließenden Wirren der Nachkriegszeit, deren Lebensweg sie bis in die Gegenwart hinein verfolgt hat“. Und wahrscheinlich ist es dieses eine Wort, welches das Gemeinsame der aktuellen sieben Deals der Woche ausmacht: Lebensschicksale. In jedem der sieben Angebote geht es um Lebensschicksale, die unterschiedlicher in Zeiten und Orten kaum sein können. Sie alle aber haben doch eines gemeinsam: sie berühren uns …

 

Erstmals im Jahre 2001 erschien im dr. Ziethen Verlag Oschersleben der Roman „Zeit der Schneeschmelze“ von Siegfried Maaß: Verrückte Geschichten schreibt das Leben. Da verehrt ein Schüler, der sich in seiner Familie und seiner Umwelt nicht mehr angenommen fühlt, seine Lehrerin, fühlt sich von ihr bestärkt in seinen Lebenswünschen. Und gerade deshalb entführt er sie, sperrt sie in einem Abrisskeller ein, gefährdet am Ende ihr Leben. Was treibt ihn dazu, sich gerade zu dieser Frau so zu verhalten? Siegfried Maaß geht in seinem Roman dieser Frage nach, betrachtet sie in dem Geflecht von Beziehungen, in dem der Junge und seine Lehrerin verstrickt sind. Für den Leser steht nicht die Frage, ob dies hätte verhindert werden können, die man sich in ähnlichen Fällen so oft zu spät stellt, sondern erkennbar wird, dass hier Wünsche und Sehnsüchte unter Umständen aufeinandertreffen, die fast zwangsläufig unglücklich ausgehen müssen. Und gleich am Anfang dieses Buches begegnen wir der entführten Lehrerin, die Angst hat, große Angst und die versucht, sich irgendwie verständlich zu machen - vergeblich:

 

„Montag

Anna-Marie

Der schmale Streifen Tageslicht, der sich dort abzeichnete, wo die schwere Eisentür über der obersten Stufe der Kellertreppe endete, stellte die einzige Orientierungshilfe für sie dar. Doch die Wintertage waren kurz, und die junge Frau in dem dunklen Verlies fürchtete bereits die lange Nacht, die bald auch diesen einzigen Sichtpunkt auslöschen würde, der sie mit der Welt dort draußen verband.

 

„Hallo! Hört mich jemand? Ich bin hier unten im Keller! Helft mir!“ Wie oft hatte sie diesen oder einen ähnlichen Ruf schon hinausgeschrien? Längst war sie heiser, sodass sie nur noch flüstern konnte. Es kam ihr sogar vor, als wären ihre Stimmbänder inzwischen zu dicken Seilen angeschwollen. Sie schmerzten und schienen sie fast zu ersticken. Niemand hatte sie gehört, und sobald sie in Gedanken den Weg nachvollzog, den der Junge sie geführt hatte, begriff sie, dass es aussichtslos war zu hoffen, sie könnte mit ihren Rufen irgendwen auf sich und ihre Notlage aufmerksam machen. In diese abgelegene Industriebrache verirrte sich niemand, und wäre Ben durch irgendein unbeeinflussbares Ereignis daran gehindert, sie weiterhin notdürftig zu versorgen und irgendwann wieder freizulassen, würde sie womöglich das Tageslicht nicht wiedersehen.

 

„Ich will hier raus!“, sagte sie, so gut es ging. „Ich will nicht sterben, ich bin erst 32 Jahre alt, im vorigen Monat hatte ich Geburtstag.“ Ängstlich beobachtete sie den Lichtstreifen, dessen eigentümliche Färbung ihr verriet, dass es später Nachmittag war und sie für heute ihre letzte Verbindung zur Außenwelt bald verloren hätte. „Ich heiße Anna-Marie Tetzlaff ...“ Ich bin es wirklich, dachte sie. Aber mit einer fremden Stimme. An meiner Stimme kann mich niemand mehr erkennen. Auch Jens könnte es nicht.

 

Jens ... „Nicht einmal zum Geburtstag hat er mir gratuliert. Ich wäre ganz allein gewesen, wenn mich nicht meine Chefin überrascht hätte. Plötzlich stand sie vor der Tür. Darum wurde es auch kein so trauriger Geburtstag, wie ich befürchtet hatte ...“ Anna-Marie lauschte ihren Worten nach. 32 Jahre ... Ich bin jung, dachte sie, und habe noch alles vor mir. Wer gibt Ben das Recht, mir die Hoffnung auf ein langes und erfülltes Leben zu nehmen? „Manche Leute behaupten, ich würde bedeutend jünger aussehen. Dann lache ich zwar jedes Mal und bin verlegen, aber in Wirklichkeit habe ich es mir immer wieder gern angehört ...“ Sie war froh, ihre eigenen Worte vernehmen zu können, mit denen sie nicht gegen die schmerzhafte Stille ankämpfen konnte, die sie aber ahnen ließen, dass diese nicht allmächtig und unüberbrückbar war. Geräuschlosigkeit fürchtete sie seit ihrer Kindheit ebenso wie Lichtlosigkeit. Dieser, die sie jetzt wie ein Kokon umgab, war sie allerdings völlig wehr- und machtlos ausgesetzt. Der kaum noch wahrnehmbare Streifen unter der Tür schien ihre Erkenntnis zu bestätigen.

 

„Ja, ich habe es jedes Mal wieder gern gehört, wenn man mich jünger schätzte. Was sollte mir daran auch nicht gefallen? Besonders von Jens gefiel es mir. Es war für mich das schönste Kompliment.“ Gleich an ihrem ersten Abend hatte sie es zu hören bekommen, nachdem er ihr ganz geschickt ihr Alter entlockt hatte, sodass sie es nicht einmal als frech und uncharmant empfand. „Dann sind Sie ja schon richtig erwachsen!“, fügte er noch hinzu und lachte, und später hatte sie sich immer dann an dieses jungenhafte Lachen erinnert, wenn sie einen Anlass sah, einen Vergleich zu jenem Abend zu ziehen, der für sie zu einem Maßstab künftiger Gemeinsamkeit geworden war.

 

Sie waren in der geräumigen Gaststätte die einzigen Gäste. Als sie zögernd eingetreten war und sich nach einem Platz umgesehen hatte, der sie nach Möglichkeit von dem jungen Mann auf der Fensterseite deutlich genug trennte, hatte er ihr sofort zugewinkt und dann einladend auf seinen Tisch gewiesen. Ob sie dem Wirt vielleicht zusätzliche Mühe bereiten wolle, noch an einem anderen Tisch bedienen zu müssen? Er hatte ihr bereits einen Stuhl zurechtgerückt, sodass sie es als sehr ungefällig empfunden hätte, seine freundliche Einladung auszuschlagen. So hatte es mit ihnen begonnen ...“

 

Eine Eigenproduktion von EDITION digital ist „Der Traum vom Glück ohne Ende. Aus dem Leben des Malers Adrian Ludwig Richter“ von Ingrid Möller, der dort sowohl als gedrucktes Buch wie als E-Book erschienen ist: Adrian Ludwig Richter (1803-1884) war der Sohn eines Dresdner Kupferstechers. Als Kind schon beobachtet er die Erwachsenen um sich herum, hört ihren Gesprächen zu und grübelt dabei, wie sein eigener Lebensweg einmal aussehen mag. So mühsam plagen wie sein Vater möchte er sich nicht. Ein großer Held möchte er werden, einer der Kriegshelden, die alle Welt rühmt. Er schwärmt für Napoleon, den er in Dresden hoch zu Pferd sieht. Zum 10. Geburtstag wünscht er sich, ein Schlachtfeld mit eigenen Augen zu sehen. Der Schock ist so groß, dass er sich in die Welt der Märchen flüchtet. Später - zum Maler und Kupferstecher ausgebildet - sucht er sein Glück in der Feme, besonders in Rom, wo er viele deutsche Kollegen trifft. Zurückgekommen in die Heimat, wächst sein Ruhm. Doch zufrieden mit sich ist er selten. Sein Lebensweg führt über Höhen und Tiefen, Irrtümer und Selbstzweifel. Falsche Einschätzungen müssen über Bord geworfen werden. Er schafft eine friedliche Gegenwelt in seinen Bildern und zahlreichen Druckgrafiken, die in Alben „Für's Haus“ weite Verbreitung fanden und besonders die Kinder begeisterten. Seine Lebenserinnerungen verraten viel über ihn, auch wenn er sie nicht mehr zuende bringen konnte.

 

Als einladende Leseprobe aus dem Buch von Ingrid Möller mag die dienen, in der von der Begegnung des kleinen Adrian Ludwig mit einem Großen der Weltgeschichte erzählt wird, als dieser noch groß und noch am Siegen war:

 

„Napoleon in Dresden

Heute ist Pfingstsonnabend. Das Kalenderblatt meldet den 16. Mai 1812. Heute soll Napoleon Bonaparte leibhaftig Dresden durchqueren auf seinem Feldzug nach Russland.

 

Seit dem frühen Morgen hat Adrian Ludwig am Fenster Posten bezogen, auch wenn die Truppen erst gegen Abend erwartet werden. Die Aussicht ist günstig: Hinweg über Stadtgraben, Wälle, Stadtmauer, Schanzen und hohe Bäume lässt sich die ganze Amalienstraße bis zum Pirnaischen Tor überblicken und nach rechts den Elbberg hinab bis zur Neustadt. Vorbeikommen wird Napoleon hier allerdings nicht, aber Adrian Ludwig wird es nicht entgehen, wenn die Einwohner in Scharen aufbrechen, um dem Schauspiel beizuwohnen.

 

„Müssen wir nicht los, Vater?“, fragt er wohl schon zum zehnten Mal. „Nein, noch nicht!“ Immer die gleiche monotone Antwort. Da wird die Geduld auf eine harte Probe gestellt. „Vater! Jetzt sind schon ganz viele unterwegs! Sie werden uns die besten Plätze wegnehmen!“ „Das werden Spaziergänger sein, die vom Stammtisch kommen!“ Ist der Vater denn durch nichts aus der Ruhe zu bringen! Kann er sich denn für gar nichts begeistern?

 

Erst nach dem Mittagsschläfchen fängt der Vater an, sich langsam und umständlich umzuziehen. Auch für Adrian Ludwig liegen endlich die Ausgehsachen bereit. Draußen wimmelt es von Menschen. Je näher sie der Innenstadt kommen, desto größer wird das Gedränge. Die Bürgergarde bildet Spalier an den Straßenrändern. „Lass uns man hier stehen bleiben“, sagt der Vater am großen Platz vor dem Zwinger. Und wieder heißt es: warten und geduldig sein. Zu beobachten gibt es allerdings so einiges. Straßenkehrer spicken Papierfetzen auf. Fliegende Händler verkaufen Brezeln und heiße Würstchen. Berittene Beobachter galoppieren vorbei. Eine Dame mit auffällig geschnürter Taille droht in Ohnmacht zu fallen. Gerade noch rechtzeitig findet ihr Begleiter das Riechfläschchen in ihrem Pompadour. Oh, diese Hitze! „Aber, meine Liebe, wer geht da auch ohne Sonnenschirm aus!“ Ein Säugling schreit. Ein Hund schlängelt sich durch die Menge und beschnüffelt jeden. Ganz bestürzt wirkt er, weil er sich nicht alle Gerüche merken kann.

 

„Achtung!“ Ein Raunen geht durch die Menge. Irgendeine wichtige Nachricht muss durchgesickert sein. Alle spitzen die Ohren. „Von Freiberg her werden sie kommen!“ Von Südwesten also, über Freital. Aber wusste man das nicht schon längst? Adrian Ludwig ist umringt von Mänteln, Rockschößen und Seidenkleidern. Viel sehen kann er nicht. Ein vielstimmiges Gemurmel mit einzelnen Satzfetzen dringt an sein Ohr. Unterschiedliche Gerüche umnebeln ihn. So hat er sich das nicht vorgestellt. Gut, dass Vater nicht auf mich gehört hat, denkt er. Mir ist schon jetzt ganz schlecht. Hoffentlich nimmt Vater mich nachher auf die Schultern.

 

„Die Höhen des Rosstals sind schwarz vor Menschen!“, heißt es plötzlich, „Bald müssen sie hier sein!“ Die Spannung steigt. Die Gespräche werden abgebrochen. Schließlich sind Trommelgerassel und Feldmusik aus der Ferne zu hören. Die Vorhut rückt an, völlig mit Staub überpudert. Es folgen die Regimenter. Darüber beginnt es zu dämmern. Fackeln werden entzündet und Metallkörbe mit brennenden Kienkloben an den Straßenrändern aufgestellt. Der rötliche Feuerschein reißt die angestrahlten Gestalten aus dem Dunkel und lässt Gesichter und bunte Uniformen aufleuchten. Welch ein Schauspiel!

 

Adrian Ludwig ist hellwach. Der Vater hat ihn hochgehoben, damit er alles genau sehen kann. So, ja genauso hat er sich Helden vorgestellt: bunt und imposant. Ich muss mir alles genau merken, überlegt er, zu Haus mal ich dann alles in mein Skizzenheft. Mit Farben natürlich. Wenn ich nur alles behalten könnte! Und er starrt auf die prunkvollen Garden, die polnischen Ulanen mit den silbernen Kokarden. Immer exotischer wird der Zug. Auch Mamelucken sind dabei. Schließlich der Höhepunkt: die Karosse mit dem Kaiserpaar! Trompeten schmettern, Trommeln rasseln, alle Glocken der Stadt läuten, Kanonen donnern. Manche Leute schreien: „Vivat!“, oder „Vive l'Impereur!“. Manche aber pressen die Lippen zusammen. Was nun noch kommt, ist von geringerem Interesse: Nachhut, Feldküche, Marketenderinnen. Die Menge zerstreut sich.

 

Adrian Ludwig lässt sich widerwillig von seinem Vater an die Hand nehmen. Er hätte nichts dagegen, wenn er ihn tragen würde. Er ist so müde, dass er richtig taumelt. So lange darf er sonst nie auf sein. Die Bilder aber flimmern noch immer vor seinen Augen, bunt und wild durcheinander. „Ist das jetzt jeden Tag so?“, fragt er. „Tja, eine Weile werden wir wohl noch Zuschauer am Rande des Weltgeschehens sein.“´

 

Bereits 1974 veröffentlichte Renate Krüger im Union Verlag Berlin ihr Buch „Nürnberger Tand. Historia eines Narren, eines Stummen und dreier gottloser Maler“. Wir sind jetzt knapp 300 Jahre vor Napoleon in Dresden: „ANNO DOMINI 1523 wird in der Reichsstadt Nürnberg drei jungen Malern der Prozess gemacht. Die Stadt befindet sich ökonomisch, politisch und kulturell auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung und ist ein geistiges Zentrum in Europa. Das wirtschaftlich starke Patriziat hat das Stadtregiment fest in der Hand und weiß, wie mit Oppositionellen zu verfahren ist. Da gibt es die Brüder Barthel und Sebald Beham und ihren Freund Georg Pencz. Es sind Schüler des in der Stadt besonders angesehenen, hoch berühmten Meisters Albrecht Dürer. Doch jetzt stehen sie als Aufrührer vor Gericht, die gefährlichen und verderblichen Lehren von göttlicher Gerechtigkeit für den gemeinen Mann anhängen. Schlimmer noch: Die Menschen selber müssten die Gerechtigkeit schaffen auf Erden, so meinen sie. Und die Obrigkeit, die das nicht zulasse, müsse als ungöttlich verworfen werden. Gottlose Maler also, wie ihre Ankläger es wollen? Die Autorin schildert die geistigen Auseinandersetzungen und Kämpfe, die der revolutionären Erhebung der Bauern vorangingen. Sie führt uns von der weiten ungarischen Puszta, in der eben ein Bauernaufstand blutig niedergeworfen wurde, in das Gewimmel der wohlhabenden großen Stadt, in die Häuser der Patrizier wie Willibald Pirckheimer und in die Hütten der Armen, in die Werkstadt Dürers und in das Wirtshaus in der Wöhrd, den Treffpunkt derer, die Unrecht nicht mehr dulden wollten. Ein reicher Narr, der eine neue nürnbergische Weltchronik schreiben will, lernt von den drei gottlosen Malern und einem ungarischen Bauern, den die Herren grausam verstümmelt haben, dass nicht heiteres Darüberstehen und Spottlust eine neue Welt schaffen, sondern die Klarheit des Gedankens und der Mut zur Entscheidung. Schauen wir als erstes in die Puszta und nach dem ungarischen Bauern:

 

„Auf dieser weißgrauen Erde liegt ein bestaubter Körper. Ein Mensch. Ein Mann. Er heißt Bálint, aber das wird vielleicht nie jemand erfahren. Eigentlich könnte man sagen: er hieß Bálint; seine Vergangenheit trug diesen Namen. Seine Gegenwart ist namenlos, und die Zukunft wird ihm einen anderen Namen geben. Aber immerhin - er hat eine Zukunft. In seiner Vergangenheit hat auch er die Erde aufgegraben und Bäume gefällt, Sensen und Sicheln geschliffen und neue Zähne in den Rechen eingesetzt. Der Bauer Vörös Mihály war stolz auf seinen nunmehr neunzehnjährigen Sohn gewesen. Bálint verstand sich auch darauf, ein kleines Boot aus einem Baumstamm auszuhauen und einen Zaun aus Weidenruten zu flechten. Er konnte einen Hammel schlachten und, wenn man es so weit brachte, auch eine Kuh. Bei der Jagd war er unentbehrlich. Er verstand es, die Schnepfen und Reiher mit seiner Blechscheibe so geschickt aufzuscheuchen, dass der gnädige Herr sie unmöglich verfehlen konnte. Du bist ein tüchtiger Kerl, Bálint ... Ja, er hatte sogar einen Namen beim gnädigen Herrn. Elf oder zwölf Jahre alt mochte er wohl gewesen sein, also fast schon erwachsen. Du bist ein tüchtiger Kerl, Bálint ...

 

Das ganze Dorf hatte darüber gesprochen. Einem tüchtigen Kerl gebührt eine goldene Zukunft, in der er die Früchte in reicher Fülle auch ernten darf, deren unscheinbare Samenkörner er hinter Pflug und Egge der braunen Erde anvertraut hat. Einem tüchtigen Kerl gebührt ein eigenes Haus, davor ein rund gemauerter Backofen, aus dem die Frau die duftenden Brote ziehen kann wie Schätze aus einer verborgenen Höhle. Ihm kommt ein Weinberg zu, von einem geflochtenen Zaun umgeben, der unerwünschten Kreaturen den Zutritt verwehrt. Wie gut, dass er ein tüchtiger Kerl war.

 

Aber nun war er müde und matt und so benommen, dass er nicht denken, sich nicht bewegen konnte. Steif und schwer lag er auf der Erde, als hätte man ihn von einem hohen Turm herabgeworfen. Arme und Beine waren so liegen geblieben, wie sie zu Boden gefallen waren. Sie hatten so viel Gewicht, dass die verbrannte Erdkruste zu dünn schien, um sie tragen zu können. Es kam dem Bauernburschen Bálint so vor, als hätte er den Sturzweg erst zur Hälfte zurückgelegt, als müsste er noch tiefer eindringen in diesen weißgrauen Staub, als müsste er darin untergehen wie ein Weizenkorn. Aber ist es möglich, dass aus dieser toten Erde je wieder neues Leben hervorbrechen wird?

 

Sie alle hier sind von schlechten Ackersleuten ausgesät, hingestreut auf einen unbestellten Acker. Welch ein Wahnsinn! Sie sind nur Fraß für die Vögel. Wann werden sie kommen? Noch haben sie die Beute nicht erspäht, oder es ist selbst ihnen dieses Land zu unwirtlich. Auch Vögel lieben bunte Farben. Bálint öffnet mühsam die Augen, um nach den Vögeln auszuschauen. Leer ist der Himmel. Bálint sieht in die Ferne. Der Horizont ist keine verschwommene Linie, sondern eine Brücke in neue Fernen, in denen Tausende von Vögeln leben. Nicht die schwarzen Aasvögel, die den Himmel verdunkeln, wenn sie in der Luft verharren und mit ihren durchdringenden Augen nach Beute spähen. Nein, dort in der Ferne gibt es noch die kleinen frohen Farbflecken, die leben und sich bewegen, auch auf kahlen Bäumen und im Schnee, die kleinen bunten Vögel, die vielen Familien der Meisen und Finken und Rotkehlchen. Schon ihre Namen zaubern ein Lächeln auf das Antlitz des Alltags. Bunt sind die Vögel, bunt wie der türkische Teppich, den Bálint im Zelt des Feldhauptmanns gesehen hat.

 

Bálint meint aus der Ferne riesige Farbflächen auf sich zuströmen zu sehen. Ist es ein Heer von winzigen Vögeln? Ein unbeschreiblich großer türkischer Teppich? Oder gar das türkische Heer? Nun, dann kann diese sinnlose Saat völlig zerstört werden, dann wird man sie in den verkrusteten Boden einstampfen, tief, immer tiefer ... Die Farben wachsen und wechseln. Bald schiebt sich das aufdringliche Gelb in den Vordergrund, bald leuchtet allein das satte volle Rot. Bald spannt sich eine blaue Wand auf, als wolle sie den weißgrauen Himmel trösten. Nun schieben sich grüne Streifen dazwischen, gleich wieder verdrängt von kaltem Weiß. Bálint schließt die Augen, aber auch so kann er sich gegen das Gaukelspiel der Farben nicht wehren. Sie sind ja nicht in der Ferne, sondern in ihm selbst. Sind es die Schmerzen, die in seinem hingestreckten Körper wühlen? Plötzlich wird es ihm wieder bewusst, dass er Schmerzen leidet, nein, dass er selbst ein einziger großer schreiender Schmerz ist. Er schreit, und es löst sich doch kein Ton von seinen Lippen. Das Schreien rieselt in das Innere des Mannes zurück, verdichtet und verhärtet sich dort, legt sich um Herz und Lungen wie ein Panzerkleid. Und nichts dringt hindurch, nicht nach innen und nicht nach außen. Oder fast nichts ...“

 

Kehren wir mit den nächsten beiden Büchern von Joachim Nowotny wieder in die Gegenwart zurück, jedenfalls näher an die gegenwärtige Gegenwart des 21. Jahrhunderts, immerhin in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und nach Deutschland, genauer gesagt in die DDR. Im Jahr des 20. Jahrestages ihrer Gründung, 1969, erschien erstmals im Kinderbuchverlag Berlin „Der Riese im Paradies“ von Joachim Nowotny: Der dreizehnjährige Klaus Kambor, Kurbel genannt, hat seine ganz persönlichen Schwierigkeiten. Die einen meinen, er wär schon erwachsen, und verlangen von ihm, dass er sich entsprechend benimmt, die anderen behandeln ihn wie ein halbes Kind, möchten ihm am liebsten jeden Schritt vorschreiben (täglich eine Stunde Schönschreiben üben zum Beispiel, wegen seiner entsetzlichen Klaue).

 

Wo lebt Kurbel? In Kattuhn, einem Dorf irgendwo in der DDR, genauer: im sorbischen Gebiet. Kattuhn steht plötzlich im Mittelpunkt aufregender Ereignisse. Zunächst nur ein Gerücht, vage, schwer zu greifen, verdichtet sich immer mehr, was mit Kattuhn und der ein wenig abseits gelegenen Buschmühle geschehen soll: Standort eines Großkraftwerkes soll es werden. Aber in der alten Buschmühle leben doch Menschen: der alte Schuster Jubke, Rodewagens, Familie Honko, Kambors .:. Während sich das Leben der Buschmühlenleute ganz allmählich verändert, während die Männer vom Bau ihrerseits den Ton anzugeben versuchen, muss Kurbel sehen, wie er fertig wird, mit seinen Geheimnissen, wozu seine Verehrung für Daniela Greiner ebenso gehört wie sein Paradies, muss damit fertig werden, dass man ihn bei einer wichtigen Veranstaltung einfach außer Aktion setzt, denn Kurbel, das ist doch der, der den Waldbrand verursacht hat ...“

 

Das spannende Buch für Leser ab 13 Jahre wurde 1974 in der Regie von Rolf Losansky von der DEFA unter dem Titel „...verdammt ich bin erwachsen“ verfilmt. Aber schauen jetzt in den Anfang des Buches, wo die Hauptperson, der literarische Held, also Kurbel, zu fehlen scheint:

 

„ERSTES KAPITEL

1

Hier fehlt Kurbel. Denn: Paul Honko ist da, er steht schwarz und mit gefährlich funkelnden Augen vor der Durchfahrt, hat links neben sich ein altes Mühlrad, rechts eine Holzfeie, vor sich die Hundehütte mit Prinz an der Kette - dieser Paul Honko also zieht ein Scheit aus der Feie, so ein knorriges Kiefernscheit, an dem noch Aststumpen stehn, das schmeißt er jetzt zu Prinz hin. Der kann zwar ausweichen, jault aber trotzdem, springt auf die Hinterbeine, prügelt in seiner Angst die Luft mit den Vorderpfoten, das hilft ihm nichts, schon das nächste Scheit trifft ihn am Kopf. Na gut, Prinz ist eigentlich kein ordentlicher Hund, mehr so eine Promenadenmischung aus Fox und Spitz, krumme Beine, bärtige Schnauze, ein Ohr hoch, eins lappig herabhängend und Haare wie ein schwarzes Lamm - aber Hund ist Hund, jedenfalls ein lebendes Wesen, dem so etwas weh tut. Man müsste eigentlich eingreifen, müsste der armen Kreatur helfen.

 

Wo ist denn bloß Kurbel? Ja doch, hier in der Buschmühle wohnen noch andere Leute, aber die sind alle unterwegs. Der Meister Jubke zum Beispiel, der Flickschuster, trägt die reparierten Schuhe aus. Herr Rodewagen steht vor dem breiten Backstubenfenster, träumt ein bisschen in die Sonne und knetet dabei langsam den Semmelteig durch. Seine dicke Frau trinkt indessen die zweite Tasse Kaffee, denn der Konsum ist von eins bis drei geschlossen, da hat sie Pause. Paul Honkos Frau Melanie dagegen hockt nichts ahnend zusammen mit Frau Kambor, Kurbels Mutter, in einem Erdloch vor dem Dorf Kattuhn. Beide lesen Saatkartoffeln aus der Miete, es ist höchste Zeit, dass sie in die Erde kommen.

 

Weit weg im Dubowitzer Forst rollt Peter Honko, der Sohn Pauls, ausgelängte und geschälte Riesenstämme auf den Rungenwagen; nicht mehr lange, und er donnert mit dem schweren Traktor auf den Ladeplatz des Dubowitzer Güterbahnhofes. Von dort ist es nicht weit zum Glaswerk, der kalte Ofen liegt gleich neben der Rampe, an ihm mauert Josef Kambor, Kurbels Vater, herum. Er teilt gerade einen Schamottstein kunstgerecht in vier ziemlich gleiche Viertel. Bliebe noch Elisabeth. Elisabeth Honko, die hübsche Schwester Peters, der Stolz von Melanie, der Liebling von Paul Honko. Die sitzt im Augenblick mit ihrer Freundin in der kreisstädtischen Eisdiele und isst in aller Ruhe Halbgefrorenes. Die Schule ist aus, und der Zug fährt erst nach zwei zurück. Kurz und gut: All die Buschmühlenleute haben ihre Beschäftigung, keiner weiß von dem betrunkenen Mann, niemand ahnt etwas davon, dass Paul Honko wieder einmal seinen Koller hat. Der Buschmühlenhof liegt weitab vom Dorfe Kattuhn in ziemlicher Einsamkeit, nahe am endlosen Kiefernwald, da kann der dicke Rodeländer Hahn ruhig empört spektakeln, die Ziege Meta kann meckern, wie sie will, der Hund Prinz noch so heulen und wimmern, das hört keiner. Aber die Scheite fliegen. Und wie sie fliegen! Pauls langer Körper schwankt zwar auf steifen Beinen, die schwarzen Haare hängen ihm ins Gesicht, doch zielen kann er noch. Ein Scheit trifft Prinz am Hals, ein zweites an der Hinterpfote, ein drittes überm linken Ohr. Daneben geht keins.

 

Kurbel muss her! Vielleicht hockt er oben unter der Dachkappe des alten Mühlengebäudes. Das macht er manchmal, aber bloß abends, wenn die Sonne rot und rund hinter der Kiefernheide versinkt. Vielleicht steckt er auch am Mühlgraben, gegenüber der Stelle, an der sich früher das große Schaufelrad drehte. Dort steigen im stillen tiefen Wasser immer noch ein paar lichtscheue Schleie auf. Es kann auch sein, dass er sich in Meister Jubkes Schusterwerkstatt geschlichen hat, jetzt wäre es gerade günstig, Kurbel könnte endlich sein Taschenmesser an der elektrischen Schmirgelscheibe schärfen. Das wollte er schon immer mal tun, bloß der Meister Jubke lässt ihn da nicht ran, der traut sich ja selber kaum. Ginge es nach Kurbels Mutter, der energischen Frau Kambor, dann müsste der Junge jetzt in der Wohnstube am runden Tisch sitzen und Schönschreiben üben. Vier Seiten jeden Nachmittag. Und wehe nicht! Frau Kambor traut sich ja nicht mehr ins Dorf, seit alle Welt weiß, dass ihr Sohn in letzter Zeit so eine Klaue hat. Aber Kurbel sitzt natürlich nicht in der Wohnstube am runden Tisch. Noch viel weniger übt er das Schönschreiben.

 

Irgendwo wird er wohl stecken. Josef Kambor, der Hüttenmaurer, bildet sich ein, dass sein Sohn im Augenblick im Schuppen hinter dem ehemaligen Pferdestall Holz hackt. Der wird schon die Bescherung sehn, wenn er heimkommt. Nicht ein Scheit ist gehackt, nicht eins. Der Herr Sohn drückt sich vor der Handarbeit, er will später bloß auf lauter Knöpfe drücken und die Maschinen mit einem Fingerschnipsen regieren, arbeiten will er natürlich nicht.

 

Also: Kurbel ist immer noch nicht gefunden. Der kleine Hähnel wartet auch auf ihn. Da hat man nun eine ganz passable Bude gebaut, aus Latten und Schalbrettern, ziemlich gut versteckt auf der schmalen Mühlteichkaupe, die dreiseitig von Wasser umspült wird, mitten im Buschwerk steht die Bude, wie gesagt, also kaum erkennbar. Aber wozu eigentlich? Jetzt könnte man allerhand anstellen, etwas stibitzen und hier verstecken, jemanden, der auf dem Mühlteich zu tun hat, könnte man heimlich beobachten, vielleicht hat wirklich mal einer hier was zu tun. Und wenn nicht, dann ließe sich die Bude zu einem Steuerhaus umträumen, die Kaupe zu einem Riesenschiff, der Teich zum großen Meer. Der kleine Hähnel würde sich ganz gern mit dem Rang eines Ersten Offiziers begnügen und das Kapitänsamt dem Kurbel überlassen, wenn der bloß da wäre. Aber er ist nicht da. Nirgends ist er. Und der arme Prinz heult immer noch, die Scheite fliegen, Paul Honkos Augen flackern böse. Junge, Junge! würde Piepe Jatzmauk aus Kurbels Klasse sagen, der ist ganz schön blau. Aber auch Piepe Jatzmauk ist nicht da. Was soll bloß werden?

 

Prinz endlich findet einen Dreh. Er zieht den Schwanz zwischen die Beine und verkriecht sich in der Hütte. In die äußerste Ecke kriecht er. Einen Moment steht Paul Honko verdattert da, wen soll er nun malträtieren, wo er doch so einen Rausch hat und einfach jemanden malträtieren muss? Dann aber reißt es seinen Oberkörper nach vorn, das macht Schwung, nimmt die langen Beine mit, auf die Hütte zu, quer über den buckligen Hof, vielleicht fällt der Mann hin. Aber er fällt nicht, sondern greift sich eine rostige Eisenstange von der Mühlenrampe, die hat dort zwischen Moos und Mauerritzengras gelegen, jahrelang, nun muss sie dazu herhalten, Prinz aus seinem Versteck zu stochern. Der Hund quiekt in seiner Angst wie ein Ferkel, schießt dann aber plötzlich aus der Hütte, springt in rasender Wut auf Honko los, aber die kurze Kette reißt ihn zurück. Taumelnd knickt er in den Knien zusammen. Paul Honko lacht, lautlos, nur mit auseinandergezerrten Lippen lacht er, dabei schlägt er mit der Eisenstange auf den Hund los. Das nimmt kein gutes Ende. Wenn wir nur Kurbel endlich fänden!

 

Wir finden ihn. Zufällig sehen wir mal zu der Stelle, wo sich der Mühlgraben wieder mit dem Flüsschen Schwinde vereinigt. Dort wächst im Sommer Schilf einen ziemlich behäbigen Damm hoch, oben auf dem Scheitel wuchert fleischiges Grünkraut, auf der dem Wasser abgewandten Seite aber duftendes Sauergras. Jetzt freilich zeigt alles erst ein paar schüchterne Spitzen, nur das Sauergras bildet schon einen gelbgrünen Teppich, das hat es im Frühjahr immer etwas eilig. Und hier liegt nun auch Kurbel. Kopfüber liegt er. Erst kommen die Füße oben auf dem Dammscheitel, dann die Beine in Nahthosen, endlich der graue Pullover und dann das Kinn, der Nasenrücken und der dunkle Haarschopf unten im Gras. Wie kann man sich bloß so hinlegen! Uns steigt gleich das Blut in den Kopf.“

 

Zwölf Jahre nach dem „Riesen im Paradies“, also 1981, brachte Joachim Nowotny bei der Edition Holz im Kinderbuchverlag Berlin das Buch „Abschiedsdisco heraus: Angenommen, dieser Henning Marko wachte eines Tages mitten im Urwald auf und könnte sich einen Menschen herbeiwünschen. Mit wem möchte er das Abenteuer bestehen? Mit Mutter? Sie ließe sich von der Schlange beißen, nur damit sie mich nicht beißt. Mit Vater? Er würde immer vorangehen, immer die Richtung bestimmen wollen. Lutz? Sobald die Batterien des Rekorders leer wären, hätte er alle Lust am Abenteuer verloren. Und Gundula Fischer? Das ließe sich denken, wenngleich ich nicht wüsste, wie sie sich angesichts eines ausgewachsenen Ochsenfrosches aufführt. Der junge Polizist fällt mir ein. Mit dem könnte man, falls vorhanden, möglicherweise Pferde stehlen. Der schnauzbärtige MZ-Mann würde vermutlich seiner Maschine nachtrauern, sich aber bei einer überraschenden Begegnung mit dem weiblichen Teil der Ureinwohner als sehr nützlich und umgänglich erweisen. Oder Magda, von der sich lernen ließe, wie man mit der Einsamkeit fertig wird. Und der Mann mit dem Ortsschild? Er würde eine Siedlung gründen, ihr Gesetze und einen Namen geben, sich dann in den Schatten setzen, rauchen und darüber nachdenken, woher er gekommen ist, mehr noch: Wer er eigentlich ist. Mit seiner Art, das Mögliche zu tun, ohne sich aus lauter Ehrfurcht vor dem Geschaffenen selbst auf die Hosenbeine zu treten, müsste sich eigentlich ganz gut leben lassen.

 

Das ist das vorläufige Ergebnis der Überlegungen Hennings nach einem Tag voller Eindrücke in dem fast schon toten Dorf Wussina, das der Braunkohle weichen muss. Im Lichte dieses Abschieds verlaufen die Begegnungen mit den wenigen Leuten, die er trifft, überraschend und rätselhaft. Der 15-Jährige muss all seine Kräfte zusammennehmen, um dem Ansturm der Ereignisse und Gefühle standhalten zu können. Er beginnt zu ahnen, wie schwer die Prüfungen des Lebens mitunter sind, und fühlt die Kraft in sich wachsen, sie zu bestehen. Dabei denkt er natürlich auch an Dixie, die hinter ihm läuft, schon Busen hat, immer ein wenig nach Windeln riecht, weil sie kleine Geschwister zu versorgen hat. Sie wäre der ideale Kumpel; sie müsste nur etwas hübscher sein. Auch dieses spannende Jugendbuch wurde wiederum von der DEFA verfilmt und zwar 1989 wiederum in der Regie von Rolf Losansky, der auch das Drehbuch verfasste, und diesmal unter dem Original-Titel des Buches – „Abschiedsdisko“. Und da die Kapitel des Buches so kurz sind, bringen wir hier gleich die ersten drei:

 

„1. Kapitel

Leider gehöre ich nicht zu den Jugendfreunden, bei denen der Geist unentwegt sprüht. Gewöhnlich benötige ich Anlauf, ehe mir etwas einfällt. Es kann mit einem Traum beginnen. Zeitig früh im Bett: Jemand wird von jemandem geprügelt. Etwas, was es eigentlich nicht mehr gibt. Man hört es von früher oder aus anderen Weltgegenden. Weshalb ich davon träume, kann ich nicht erklären. Jedenfalls quält es mich. Ich werfe mich herum, ich ... Aber das erzähle ich nicht mal Lutz. Noch im Halbschlaf höre ich plötzlich Mutter reden. In ihrer Stimme ist etwas ungewohnt Keifendes. Es muss ganz schön was los sein, drüben in der Küche.

 

„Ich hab’s gewusst, dass es so kommt. Ich hab’s gewusst!“ „Und?“, höre ich Vaters barschen Bass, „was hat es geholfen, dass du es wusstest? Der Alte hockt immer noch dort.“ „Sprich nicht so von meinem Großvater!“ „Ist er vielleicht nicht alt?“ „Deshalb musst du ihn nicht gleich abschreiben.“ „Als ob das ginge! So ein eigensinniger alter Zausel, der bringt sich schon in Erinnerung.“ „Zausel, aha!“ „Ich muss mich auf der Straße ansprechen lassen: Warum geht er nicht endlich ins Altersheim, wo er aufgehoben wäre. Warum bleibt er dort? Als letzter. Das riecht doch nach Provokation!“ „Wenn er nicht will.“ „Was heißt, nicht will? Wer fragt mich denn, was ich will. Ich muss mir die Vorwürfe anhören. Das war einer von der Kreisleitung, Mädchen.“

 

Wenn Vater zur Mutter Mädchen sagt, ist es entweder ganz gut oder ganz schlimm. Das kann ich mir ja nun aussuchen. Mutter jedenfalls weiß, woran sie ist. Sie nimmt ihre Stimme zurück. „Und wenn du nun doch noch mal hinfährst? Mit ihm sprichst?“ „Ich denk nicht dran! Damit er mich wieder stehen lässt, wie einen dummen Jungen. Außerdem fahren wir morgen ins Riesengebirge, basta!“

 

2. Kapitel

Dieser herzerfrischenden Unterhaltung folgt jenes Schweigen, aus dem geschickte Leute ganze Romane machen. Ich wälze mich im Bett, als wäre ich es, der die Schläge empfangen hat. Endlich kann ich mich von mir selbst losreißen. Endlich schaffe ich es, aufzustehen. Unter der Tür krächze ich etwas, was nur bei viel gutem Willen als Gruß gedeutet werden kann. Der Wille ist nicht vorhanden, also wird mir keine Antwort zuteil. Als ich aus dem Bad komme, hat sich die Szene verwandelt. Mutter klappert munter mit den Tassen, Vater kaut und liest dabei die Zeitungsrubrik „Auch das gibt’s!“ Sie steht auf der vorletzten Seite unten links. Ansonsten aber ist die Welt in Ordnung. Ich würde ihnen gern zeigen, dass ich das Spiel durchschaue. Aber noch fällt mir nichts ein. So greife ich die Tasche und gehe wortlos.

 

3. Kapitel

Später dann Deutsch bei Fräulein Brode. Sie ist die reine Zuversicht. „Henning, ich weiß, du hast dich heut vorbereitet.“ Um sie nicht allzu sehr zu enttäuschen, stehe ich wenigstens auf. Gleich früh muss ich zur schärfsten Waffe greifen, muss ich den Naiven mimen. Man sagt mir dünnes blondes Haar und treue blaue Augen nach. Wenn ich in den Spiegel sehe, finde ich das leider bestätigt.

 

Niemand indes weiß, dass ich das nicht bin. In mir steckt ein brauner, beinahe nachdenklicher Typ, der im entscheidenden Augenblick schnell zuschlagen kann. Ein solcher Moment ist nicht. Auf Fräulein Brodes Zuversicht kann man nur blauäugig reagieren. „Ich hab gedacht, wir haben das nicht auf.“ Beinahe enttäuscht stelle ich fest: Sie glaubt mir. Sie tut ein übriges, ruft Gundula Fischer auf. Die kann. Kann immer alles. Während sie redet, füllt sich Fräulein Brodes Zuversicht mit viel guter Meinung über den Leistungswillen der Schüler von heute.

 

Noch später Sport. Dieser Sprung über das Pferd längs. Ich lege ihn hin, als müsse das so sein. Lutz stößt einen rauen Triumphschrei aus. Gundula Fischer sieht, ganz Bewunderung, aus der anderen Turnhallenseite zu mir herüber. Habich schreibt eine Eins ein. Nur ich weiß, dass der Sprung ungültig ist. Ich kann ihn nicht. Ich fürchte ihn und lande immer mit dem Hintern auf dem letzten Drittel des Pferdes. Es war reiner Zufall, dass ich dieses einzige Mal hinüberkam. Aber wer will das hier wissen?

 

Dann Stabü bei Katscher. Die Stunde zieht sich wie Gummi. Katscher referiert über die Rolle des Staates und stemmt sich gegen unsere Müdigkeit. Der Staat sind auch wir. Der Staat bin auch ich. Wenn ich Katscher richtig verstehe, dann will er vor allem den Blauäugigen in mir. Wenn er wüsste, wie anstrengend es ist, andauernd so treudeutsch in die Gegend zu blicken. Man lernt es, mit offenen Augen zu dösen. Ehe ich einen Einfall haben kann, gerate ich unversehens in den Frühtraum, höre ich Vater und Mutter, sehe ich Fräulein Brodes Zuversicht, erlebe ich die Angst vor dem Sprung. Herr Katscher ist gerade bei der allseitigen Stärkung, der Einfall wäre fällig. — Doch bevor er kommt, ertönt die Klingel.“

 

In dem anderen deutschen Staat, der damaligen Bundesrepublik Deutschland, der BRD, spielt der Roman „Die fünf Leben des Dr. Gundlach“ von Wolfgang Schreyer. Die Druckausgabe erschien ein Jahr nach der Abschiedsdisko“ von Joachim Nowotny,1982, im VEB Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik Berlin und setzt zwei Jahre zuvor ein: Köln, Herbst 1980. Hans Gundlach, Werbemann der Rheinischen Industriebau AG, fliegt nach El Salvador, um die Auslösung des dort entführten Filialleiters zu überwachen. Ein Detektivbüro soll ihn für 1,5 Millionen Dollar freikaufen. Gundlach kümmern nicht die politischen und sozialen Kämpfe in dem kleinen Land, er sieht nur seinen Auftrag; erledigt er den, steigt er auf der Leiter des Erfolgs noch höher. Also schaltet er aus, was ihn stört, handelt ganz auf eigene Faust. Im Dschungel des Machtkamps setzt er alles aufs Spiel und verliert die Existenz. Doch Hans Gundlach steht immer wieder auf. Zwei Anläufe hat er schon hinter sich: als Teilnehmer der Studentenunruhen 1968 und als linker Journalist; später als junger Mann der Konzernführung. Nun wagt er von neuem den Sprung in die Politik. Ihm ist als habe er fünf Leben. Nichts scheint unmöglich. Er kann sich eine Geheimdienst-Laufbahn ebenso vorstellen wie ein Wirken für die Befreiungsbewegung. Ist ihm jeder Start recht? Sind Taktik, Karriere und Träume vom Erfolg die Leitlinien seines Handelns? Und so fangen die fünf Leben des Dr. Gundlach an:

 

„I. The Troubleshooter

oder Der Durchreißer

1

„Herr Doktor“, sagte die Sekretärin, als Gundlach vom Essen kam, „Herr Direktor Winter bittet Sie in zehn Minuten zu sich. Er hat auch etwas geschickt, drinnen auf Ihrem Schreibtisch...“ „Was will er denn?“ Achselzucken, wie üblich; diese Frau wusste niemals mehr, als man ihr sagte. „Es klang sehr dringlich.“

 

Bestimmt wieder ein Feuerwehreinsatz, Trip ins Ausland, etwa in dieses Drecknest Kairo. Oder nach Übersee, Indien oder Schwarzafrika, wo es dauernd haperte... Ach, er hatte es satt. Die Rheinische Industrie AG stand da in Ländern wie Zaire und Mali als Lichtbringer im Chaos. Und nahm der Ärger überhand, schickte man gern ihn, Hans Gundlach, mit seinen drei Fremdsprachen und der Verhandlungsgabe, die ja bloß Einfühlung war, die Kunst, sich mehr intuitiv als vernunftmäßig in den Partner zu versetzen. Meist gab man ihm einen Wirtschaftsfachmann, Juristen oder Diplomingenieur mit, jemanden aus der Projektierung oder vom Personalbüro, je nach Art des Problems. Er war der vierte Mann in der PR-Abteilung des Konzerns, sein eigener Kram, die Öffentlichkeitsarbeit in der Dritten Welt, blieb dann liegen, aber was half’s: Der Gundlach wird's schon richten.

 

Er griff nach der „Frankfurter Allgemeinen“, die da von Winter kam; er hatte Reiseunterlagen erwartet. Wichtiger übrigens als das Problem und das Ziel war ihm, wer diesmal mitkam. Hoffentlich nicht Winter selbst. Mitte Fünfzig war der, zwanzig Jahre älter, vierzig Pfund schwerer, zwei Firmenränge höher - na, da gab's halt kaum Kontakt. Gundlach hatte ihn einmal begleitet und davon noch genug! Privat schien Winter ein armer Hund, sexuell enttäuscht wie viele in dem Alter. Das ging Gundlach so recht erst beim Rückflug auf, als Winter nach zwei, drei Kognaks anfing, die Stewardess zu necken und auch die Namen der Fluglinien zu verballhornen. Aus Pan-Am machte er: „Passengers are not Allowed mating" - Passagiere dürfen sich nicht paaren, SAS hieß „Sex After Service“, und die Lufthansa wurde bei ihm zur Lusthansa; ein gestresster Manager eben, der unterwegs mal Dampf ablässt. Gundlach erinnerte sich daran bloß, weil er selber bei „Lufthansa“ noch eins draufgesetzt hatte, um den Mann zu erfreuen: „Let us fuck the hostess as no Steward available“ - treiben wir's mit der Hostess, da kein Steward verfügbar. Erbärmliches Gewitzel, geschmacklos, man konnte auch Anpassung übertreiben. Obendrein war er Winter gar nicht nähergekommen, dem gab jeder Flugkilometer heimwärts ein Stück seiner Würde zurück.

 

Was sollte ihm das? Ein Jahr war die Zeitung alt, vom Dienstag, dem 16. Oktober 1979... Gundlach ging die Annoncen durch, sein Revier, doch die RIAG hatte in dieser Nummer überhaupt nicht inseriert. Dafür stieß er im Feuilleton auf eine zweiseitige Großanzeige, von Winters Grünstift angekreuzt. Unter der naiven Schlagzeile „An die Menschen der Welt“ sieben Textspalten, drei unscharfe Horrorfotos, eine Statistik und das Emblem einer ominösen „Revolutionären Partei Zentralamerikanischer Arbeiter“! Keine Produkt-, eher Sympathiewerbung; das Inserat warb um Verständnis für einen Umsturz in Mittelamerika. Übrigens entschuldigte die Redaktion auf Seite 2 den Abdruck mit Erpressung. Gundlach überflog den Text nur eben; eine Bleiwüste mit schaurigen Oasen. Zu verschroben klangen hier Kampfparolen wie „Lang lebe das Recht des salvadorianischen Volkes auf einen revolutionären Befreiungskrieg!“ und die bizarren Anklagen aus dem Blickwinkel eines fernen, tropischen Untergrunds. Was richtete so etwas in Deutschland denn aus? Den Rebellen fehlte offenkundig ein PR-Mann, der ihnen die Selbstdarstellung und das Feindbild aufpolierte, beides war irgendwie trüb, verschleiert, von Hass und Schwulst entstellt; jemand wie er, Gundlach, hätte es entzerrt und effektiv gemacht, dank seiner Vergangenheit war er genau der Mann dafür gewesen. Denn mit 53 250 Mark, dem Listenpreis für die „FAZ“-Doppelseite, hätte sich etwas publizieren lassen, das den Leuten unter die Haut ging... Was eigentlich bezweckte Winter jetzt damit? Sollte es mit der Arbeit in El Salvador zusammenhängen, etwa diesem Hafenausbau?

 

Während Gundlach hinauffuhr in die Chefetage, kam ihm eine Erinnerung. Im vorigen Herbst waren zwei nordamerikanische Geschäftsleute dort an der Pazifikküste entführt worden; ihr Fahrer und der Leibwächter kamen bei der Sache um. Eine der fast schon alltäglichen Geiselnahmen in dem kleinen Land. Die Aktion hatte aber nicht nur wie sonst einen Berg Lösegeld gekostet, sie diente auch noch für einen Propagandacoup. Die Drohung mit dem Tod der Geiseln nämlich war der Hebel, mit dem die Täter ihr Manifest als Großinserat in die „Frankfurter Allgemeine“ pressten; übrigens auch in die „New York Times“, die „Los Angeles Times“ und ein Dutzend weiterer Blätter wie „Le Monde“ und den Londoner „Daily Mirror“, Englands Bildzeitung. Ja, nun fiel es Gundlach wieder ein: Beckman Instruments Inc., Los Angeles, hieß die leidtragende Firma; die zwei Geiseln waren ihre Filialleiter in El Salvador gewesen.

 

Der Fall stand gar nicht einzig da. Vor zwei, drei Jahren schon hatte es solch ein Zwangsinserat argentinischer Guerrilleros in der "Süddeutschen Zeitung" gegeben, bezahlt von dem Konzern Bunge & Born in Buenos Aires. Die Entführung eines Mercedes-Direktors, auch in Argentinien, ergab eine Annoncen-Kampagne auf Kosten von Daimler-Benz. Und der Elektroriese Philips, dessen Manager in El Salvador gekidnappt worden war, musste in 32 Ländern eine zweiseitige Anzeige finanzieren, die dem Regime des Kaffeestaats das Übliche vorwarf: Demagogie und Verbrechen wie Korruption, heimliche Massaker und „bestialischen Sadismus“, belegt mit den Fotos Gefolterter, ganz wie hier...

 

Mehrmals traf es auch japanische Konzerne. Doch jetzt sah es so aus, als sei die eigene Firma dran.“

 

Szenenwechsel. In Zeit und Raum. Erstmals 1995 erschien bei Langen Müller das Buch „Wer gibt uns die Träume zurück. Schicksal Ostpreußen“ von Elisabeth Schulz-Semrau: Mit „Suche nach Karalautschi“ (1984) und „Drei Kastanien aus Königsberg“ (1990) hat die gebürtige Königsbergerin Elisabeth Schulz-Semrau bereits zwei Titel vorgelegt, die sich mit der Geschichte ihrer Heimatstadt beschäftigen und die Autorin als kenntnisreiche Chronistin Königsbergs ausweisen. Die Rekonstruktion dieser Geschichte setzt sie in ihrem neuen Buch fort und hat mit viel Spürsinn und großer sprachlicher Sensibilität eine Reihe bewegender literarischer Porträts zusammengestellt. Es sind die Schicksale russischer und deutscher Kinder aus den letzten Kriegstagen und den sich anschließenden Wirren der Nachkriegszeit, deren Lebensweg sie bis in die Gegenwart hinein verfolgt hat.

 

Es ist das große Verdienst der Autorin, dass dabei - aller Grausamkeit und allen Schrecken zum Trotz - keine Litanei des Leids entstanden ist, sondern die differenzierte und sich jeder Schematisierung entziehende Beschreibung von Lebensschicksalen. Dass der Mensch, trotz traumatisch gewordener Leiderfahrung, in der Lage ist, aus der Geschichte zu lernen, zeigt Elisabeth Schulz-Semrau, ausgewiesene Kennerin der ostpreußischen Geschichte, legt mit diesem Buch eine Reihe authentischer literarischer Porträts vor, die auf persönlichen Begegnungen basieren. Es sind die bewegenden Einzelschicksale russischer und deutscher Kinder aus der Endphase des Zweiten Weltkriegs, die in ihrer Gesamtheit ein plastisches Bild der jüngeren Geschichte Königsbergs und Ostpreußens ergeben. Und hier ein Auszug aus dem Buch, nicht ganz vom Anfang, aber bald danach:

 

„Fangen wir also mit dem Jahr 1936 an, die Geschichte Rudolf Mietlewskis (Nachname natürlich auch fingiert) aus der Stadt Königsberg zu erzählen. Fünf Jahre ist er da, wie auch ich es war. Ich bin nur fünf Monate früher geboren. Vielleicht haben unsere Mütter im gleichen Krankenhaus gelegen, in der Langen Reihe? Zu schaffen hatten beide Frauen wohl kaum etwas miteinander. Wir haben im östlichen Teil Deutschlands gelernt, es Klassenunterschiede zu nennen ...

 

Als sich Renate Mietlewski 1931 noch einmal schwanger fühlte, war sie zweiunddreißig. Heinz, ihr Erstgeborener, war zehn, gerade aus dem Gröbsten heraus. Und nun sollte alles noch einmal von vorn beginnen? Edgar, ihr Mann, vierunddreißig, hatte nach einer Durststrecke von zwei Jahren und fünf Monaten gerade wieder eine Arbeit bekommen, als Schlosser auf dem Flugplatz Devau. Vorübergehend, hatte man gesagt. Zu so einer Zeit also ein Kind?

 

Aber es würde ja vielleicht ein Mädchen werden, Mädchen ließen sich billiger hübsch anziehen und waren im Alter eine Stütze. Als die Schwester ihr das Baby, männlichen Geschlechts, in den Arm legte, weinte Renate Mietlewski. Es war keine glückliche Erschütterung. Als sich Heinzi daheim in der Sackheimer Mittelstraße etwas verstört über den plötzlich hinzugekommenen Bruder beugte, zog die Mutter ihren nun Ältesten an sich, sagte tröstend, was Rudolfs ganzes Leben überschatten würde: Bleibst doch mein bestes Lorbasschen ...

 

Die Wohnung besteht aus zwei Zimmern, einer Kammer, die als Zimmer für Heinz eingerichtet wird, das Vorderzimmer bleibt tabu, muss vermietet werden, das Bett des Schreihals’ wird erst einmal in der Küche untergebracht. Vater Mietlewski arbeitet inzwischen als Heizer, steigt zum Lokführer auf. Er tritt der Flügelradgewerkschaft der Eisenbahner bei, nicht aber der Partei, die sich rühmt, die Arbeitslosigkeit beseitigt zu haben, was ja für ihn zutrifft, und Deutschland zum Erwachen zu bringen. Er ist sozialdemokratisch eingestellt und religiös. Man besucht in der Sackheimer Kirche früh den sonntäglichen Gottesdienst, damit Vater Mietlewski anschließend noch Zeit hat, für die Volksfürsorge zu kassieren. Ein zusätzlicher Verdienst, die Familie hat also ihr Auskommen.

 

Heinz wird in der Yorkstraße in der Sackheimer Mittelschule angemeldet. Als er 1935 konfirmiert wird, richtet der Vater das Zimmer für 20 Gäste her. Daran kann ich mich nur nach Erzählungen erinnern. Aber das größte und eindrucksvollste Fest meines Lebens war Vaters Beerdigung, sagt der jetzt Neunundfünfzigjährige. Das vergesse ich nie: Vater hatte selbst eine hohe Versicherung abgeschlossen, und so organisierte mein Onkel etwas ganz Besonderes: Drei Taxen fuhren uns und Hunderte von Eisenbahnern folgten dem Sarg. Wir hatten eine Grabstätte für zwei Personen gekauft. Für den Grabstein reichte dann allerdings das Geld nicht mehr. Wir stellten so’n bissel Bank auf ... Jedenfalls hatten die Träger schwarze Mäntel und Stiefel an. Als sie das Grab zuschaufelten, zogen sie die Mäntel aus, so seh ich sie bis heute. Wie viele Gäste sich dann in der Kneipe einfanden, weiß ich nicht, nur, dass wir viele waren. Immer war ich stolz darauf gewesen, dass wir so ein Fest feiern konnten! Mutter hätte wohl lieber von dem Geld was übrig behalten. >Onkel ist ein richtiger Lebemann<, lamentierte sie. Meine Mutter verstand sich mehr mit der Tante, beide waren sehr kirchlich. Mein ganzes voriges Leben ging durch die Kirche. Erst hier, nach 1947, musste ich aus der Kirche austreten. Meine Verwandten sagten: Für Kirchensteuer ist kein Geld übrig!

 

Nach dem Tod des Vaters übernimmt Frau Mietlewski die Kassierung für die Volksfürsorge. Jeden Nachmittag ist sie von 16 bis 19 Uhr unterwegs. Wenn Rudi sie nicht begleitet, wartet er in der Küche am Fenster und spielt mit dem Schlittschuhnuddler Straßenbahn. Denn unbedingt würde er Straßenbahnfahrer werden - wie der Onkel, der ihn oft auf seiner Tour ohne Geld mitfahren ließ. 1938 in der Schenkendorfschule eingeschult, erlebt er eine kurze, glückliche Zeit mit einem Lehrer, der ... wie ein Vater... war.

 

Er fuhr mit uns Kindern an die See, nahm auch die Mütter mit. Da musste auch meine  Mama nett zu mir sein. Das war sie nämlich meist nicht. Sie hatte so eine Art, mir Dresche anzudrohen, indem sie den ganzen Weg kein Wort mit mir redete. Ich erinnere mich noch, wie wir auf der Weißgerberbrücke über den Schlossteich gingen, und ich bettelte: >Bitte, Mama, hau mich doch nicht, ich werd ’ auch ganz artig sein.< Ich küsste ihr sogar die Hand. Es half nichts, kaum schloss sich die Wohnungstür, bezog ich die obligatorische Kloppe. Sie liebte wohl bloß meinen Bruder.

 

Der wurde 1939 eingezogen, geriet in englische Gefangenschaft und blieb nach dem Krieg in England. Im gleichen Jahr kam Rudi an die Bülowschule, die Lehrer unterrichteten in Uniform, und als sie eingezogen wurden, kam, so erinnert er sich, eine Lehrerin, die in einem schwarzen Kleid unterrichtete, dessen einziger Schmuck das Parteiabzeichen war. Als die Schule als Lazarett gebraucht wird, geht’s im Schichtunterricht an die Schenkendorfschule zurück. Überhaupt bewegt sich das Leben dieses Jungen, wie das der meisten anderen Kinder dieser Stadt, zwischen den unreflektierten Widersprüchen ihrer damaligen Historie. Vom Dach seines Hauses sieht Rudolf die Synagoge brennen, hört davon, wie man die jüdischen Waisenkinder barfuß, im bloßen Hemd durch die Straßen trieb.

 

Seine Mutter ist nicht in der Partei, aber der FENSTERTEPPICH (ich lasse mich aufklären, dass es sich dabei um die Hakenkreuzfahne handelt) wird bei Feiern und Siegesmeldungen herausgehängt. Als alleinstehende Frau ... Oft hält die Grüne Minna in seiner Straße, Arbeiter werden eingeladen, es wird geflüstert, das seien diese berüchtigten Kommunisten, und einige Jungen verweigern sich der Hitlerjugend. Versuchen es zumindest.

 

Rudolf kommt 1942 zum JUNGVOLK - es ist ihm wahrhaftig im Kopf geblieben: FÄHNLEIN 17, JUNGSTAMM 2. Aber da kann er von zu Hause weg, und die Mutter muss schweigen. Sie haben Dienst hinter der KDF-Halle, biwakieren in Rundzelten, und es macht ihm Spaß. Zuerst jedenfalls. Sogar die militanter werdenden Spiele wie Späher oder Melder sind nach seinem Geschmack. Bis - ja, bis darauf im Kampf um Königsberg ein Dreizehnjähriger „Soldat“ zu werden hat.

 

Zweimal besucht er mit der Mutter Veranstaltungen in der KDF-Halle; eine hieß: Das ist die Berliner Luft! und dann fahren sie auch mit einem KRAFTDURCHFREUDESCHIFF nach Kahlberg, eine Kapelle spielt. Mutter Mietlewski hat sich schick gemacht, sie achtet nicht so auf Rudi - der Mieter des Vorderzimmers ist auch mit. Den mag der Junge, hat er ihm doch einen herrlichen Kaufmannsladen aus Streichholzschachteln gebaut. Er arbeitet in einem Zigarettenladen. Als er später eingezogen wird, zieht ein Polizist in das Zimmer, mit dem ist die Mutter besonders befreundet. Überhaupt beginnt der Krieg, die mütterliche Strenge aufzuweichen, und es werden einfache, normale Vergnügungen für den Jungen möglich. Er angelt mit Freunden am Kupferteich, hockt mit vier anderen in einem Kajütenboot am Pregel. Ihrem Piratenschiff. Oder - sie knüpfen von langsam dahingleitenden Flussschiffen den Rettungskahn ab und karjohlen damit tagelang auf dem heimatlichen FLÜSSCHEN. Ein Tennisball verhilft manchmal zwanzig Kindern zu einem Fußballmatch. Aber es gibt auch Straßenschlachten, wo sie mit Latten aufeinander losprügeln, eine Straße gegen die andere.

 

Im Winter wird in den Glacis gerodelt und der Weihnachtsmarkt auf dem Paradeplatz unsicher gemacht. Im Sommer ist Rudis Lieblingsplatz auf der Treppe eines Bäckerladens. Da sieht er auch die Gefangenen, die ein P oder U auf dem Rücken haben und die darauf warten, dass ihnen einer ein Brötchen schenkt. Die Großmutter hat einen Gemüsekeller in der Manteufelstraße, so finden Verwandtenbesuche mal auf dem Tragheim, mal auf dem Sackheim statt. Einmal hat die Mutter aus diesem Anlass Rudolf Hose und Weste aus Vaters altem Anzug nähen lassen. Es bleibt einer der wenigen Pluspunkte für die Mutter in der Erinnerung des fast Sechzigjährigen ...

 

Die Angriffe im August 1944 erlebt Rudolf als HJ-Melder beim Volkssturm zwischen Tragheimer Kirchenstraße, Steindamm, Paradeplatz. Als er in der Wrangelstraße von drei Kettenhunden angehalten wird, ruft er: Goldfisch. Und die antworten: Wasser. Hätte ich die Losung nicht gewusst, wär ich bestimmt abgeknallt worden ... , sagt er. Gegen Morgen heimkommend, findet er die Sackheimer Mittelstraße 13 nur noch als rauchenden Trümmerhaufen. Mutter und Sohn ziehen zu den Großeltern in die Tragheimer Pulverstraße.

 

Im Herbst 44, als die Russen Ostpreußen Stück um Stück erobern, bauen beide an einer Panzersperre in der Wrangelstraße, Ecke Tragheimer Kirchenstraße mit. Als er dieses Detail erzählt, überlege ich, ob dieser Umstand nicht womöglich die Ursache dafür war, dass mein Haus in der Tragheimer Kirchenstraße 17, das die Terrorangriffe doch verschont ließen, für mich heute unauffindbar ist?“

 

Und, sie Sie berührt worden? Von dem einen oder anderen Angebot? Ganz sicher sprechen sie sieben Titel Leserinnen und Leser ganz unterschiedlich an – je nach Alter und Herkunft, eigener Lebens- und Leseerfahrung. Aber mindestens eines der Bücher dürfte wohl Interesse finden und zur ausführlichen Begegnung mit den jeweiligen literarischen Helden einladen.

 

Apropos Begegnung. Zum Schluss noch ein kleines Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, wie es wäre, wenn sich die Hauptfiguren der sieben Bücher und vielleicht auch einige Nebenfiguren irgendwo träfen und sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten, ihre Freuden und ihre Schmerzen erzählten. Das dürfte wohl eine sehr aufschlussreiche und spannende, lustige und traurige Runde ergeben – mit drei Worten: ein literarisches Ereignis. Viel Vergnügen beim Weiterdenken dieses Gedankens und bis zum nächsten Mal!

DDR-Autoren: Newsletter 06.10.2017 - Verrückte Geschichten, Napoleon in Dresden, Kurbel in Kattuhn und andere