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Der Meeraner Bote. Geschichten aus einer kleinen Stadt von Wolfgang Eckert
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
07.12.2022
ISBN:
978-3-96521-812-3 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 130 Seiten
Kategorien:
Geschichte / Deutschland, Geschichte / 20. Jahrhundert, Geschichte / 19. Jahrhundert, Geschichte / 18. Jahrhundert, Geschichte / 17. Jahrhundert, Geschichte / 16. Jahrhundert
Mündlich überlieferte Geschichte, Oral History, Sozial- und Kulturgeschichte, Sachsen-Anhalt, Sachsen, 1500 bis heute
Meerane, DDR, Wende
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Das „Meeraner Blatt“ hatte schon 1945 einen älteren Bruder, das „Mitteilungsblatt“. Ich besitze eine Ausgabe vom 20. November, einem Dienstag. Im amtlichen Teil erfahren wir, dass an diesem Tag der Schulunterricht wieder begonnen hat. Kinder, die das heute lesen, werden ausrufen: „Die hatten es aber schön!“ Denn sie wissen nicht, dass damals seit April der Krieg nun auch in das, zwar durch einen zufälligen Bombenabwurf verletzte, sonst aber stille Meerane eingezogen war und die Lehrer herumrätselten, was sie jetzt zum Unterricht erzählen sollen. Im Rechnen und Schreiben null Problemo, aber schon in der Erdkunde, wie das damals hieß, haperte es. Wie groß war das Großdeutsche Reich nun wirklich noch? Immer, wenn wir größer werden sollten, wurden wir kleiner. Dies als Faustregel knüppeldick hinter unsere deutschen Ohren geschrieben. Jetzt rätseln die Lehrer wieder. Meerane hatte übrigens damals einen Oberbürgermeister, und der hieß Asser. Ob er auch ein As war, weiß ich nicht. Suchen wir weiter im „Mitteilungsblatt“, was früher geschah. Der Bußtag wurde auf den Totensonntag verlegt. Arbeit war dringend erforderlich. Trotzdem durften an dem nun bußfreien Mittwoch keine Lustbarkeiten stattfinden. Was ist eine Lustbarkeit –? Damals gab es doch nur die eine, mehr noch nicht. Die Buslinie Meerane – Glauchau fuhr seit 19. November wieder. Unter der Nr. 105 genau wie heute. Aber sie fuhr zum Beispiel von Härtels Hotel bis zum Leipziger Platz/Kaffee Seidel eine Minute schneller als 1990! Wie haben die Burschen das bloß gemacht mit ihren alten Kisten? Ich weiß: Es gab ja eine Schaffnerin im Bus mit einer Kasse am Hals und einer Kurbel für die Fahrkartenkontrolle – da waren die Leute erst einmal schnell drin, und die Kiste orgelte zügig weiter. Sonntags allerdings nicht, und wer abends sieben Uhr noch nach Glauchau wollte, hatte keine Chance mehr. 18.30 Uhr war für die Busse in Meerane Polizeistunde. Apropos Polizei –, das Polizeiamt Meerane wies erneut auf eine Verfügung hin, wonach Brot beim Verkauf an die Bevölkerung durch den Verkäufer vorzuwiegen ist. Die Bevölkerung wird dringend ersucht, Gewichtsunterschreitungen unnachsichtig zur Anzeige zu bringen. Alle heutigen Bäcker von Meerane mögen mir verzeihen, dass ich so etwas notiere. Ausnahmen bestätigen die Regel. Unser damaliger Bäcker hieß Max Büchold. Er schrieb uns das durch Marken rationierte Brot immer wieder an, obwohl er wusste, dass wir es nie gutmachen konnten. Gemüse gab es ab 1. November auch nur auf Lebensmittelkarten. Ich stand dort, wo jetzt die Verkaufsstelle „Gesunde Ernährung“ ist, in einer Schlange nach Dörrgemüse an. Eine Tüte gab es pro Kopf. Die gehäckselte Masse wurde in Wasser aufgebrüht, gewürzt und, wenn man hatte, mit Mehl sämig gemacht. Dann mampfte man das Ganze mit verzweifeltem Appetit hungrig hinein. In den Adler-Lichtspielen an der Poststraße lief „Der weiße Traum“. Für Jugendliche über 14 Jahre waren Wolf Albach-Retty, Rudolf Carl, Oskar Sima und das Eisballett erlaubt. Vielleicht als Entschädigung fürs Dörrgemüse. In der „Libelle“ war außer mittwochs und sonntags täglich Dielentanz. Auf vielseitigen Wunsch wieder Schallplattenmusik und kleinere Preise. Eintritt frei! Da haben wir also doch noch andere Lustbarkeiten. „Auf alle Fälle in die Libelle!“ stand damals gegenüber vom Bahnhof auf einem Plakat, gewissermaßen als Symbol für das Meeraner Nachtleben. Das Bekleidungshaus Ernst Sorge fertigt Ihnen Damen-Mäntel, Herren-Anzüge, Herren-Sakkos und Herren–Hosen an. Liefern Sie uns Ihren Stoff und sämtliche Zutaten. Wenn einer aber nun keinen Stoff oder Zwirn hatte? Dann musste er auf Tauschgeschäfte gehen. Da sucht jemand eine Couch und einen Herrenhut, Größe 58. Vielleicht wollte er Modell sitzen? Einer verkauft Ski-Stöcke und gut erhaltene Gummistiefel. Na dann: Ski Heil beim Wolkenbruch! Am vergangenen Sonntag zwischen 8 und 9 Uhr ist auf dem Wege Ortskrankenkasse, Rotenberg, Augasse ein Ferkel aus dem Wagen gesprungen und noch nicht wieder aufgefunden worden. Versteht sich 1945. Das wird ein Schmaus gewesen sein! Es gab nichts zu essen, es gab nichts auf die Haut: Wer näht meinem Kinde einige hübsche Sachen? – Wer schneidert mir bis Frühjahr Kostüm? – Wer näht mir ein Kleid? – Biete neuwertige Männerschuhe, Gr. 41, suche gleichwertige Damenschuhe. – Biete hohe Herrenschuhe, Gr. 40, suche Kinderstiefel. – Biete guterhaltene Herrenhalbschuhe, Gr. 42, suche Damenhalbschuhe, Gr. 40, mit Blockabsatz. – Und hier der Knüller: Biete rechten Herrenschuh, 41, suche einen linken. – Warum so reichlichen Schuhtausch? Hier sollte uns das Lachen vergehen. Vielleicht brauchte einer nur noch einen linken, und die einstigen Träger der anderen Schuhe lagen irgendwo in einem Land verscharrt, wo sie nie hingehörten. Nun fehlten sie auch auf den Tanzsälen. Am Dienstag, dem 20. November 1945 war in den Reichshallen der beliebte Sonder-Tanzabend mit Damenwahl. Die Damen suchten gleich selber verzweifelt die wenigen Männer. Die Berufsschule suchte unterdessen geübte Fachkräfte, die nicht der NSDAP oder der NS-Frauenschaft angehörten. Solche wurden ausgegrenzt ohne die Frage, ob sie ehrlich bereuten, ob sie nachweislich keinem Menschen Schaden zugefügt haben, ob man sie dort hineingezwungen hatte oder ob sie aus Liebe zu ihrem Beruf sich dazu durchgerungen hatten. Es konnte ja auch sein, dass jemand faschistischer Beziehungen verdächtigt wurde aus ganz persönlicher Rache. Leicht ist es, einen zu verdächtigen. Denn eine der meistverbreiteten Krankheiten, auch in Meerane, ist das Vorurteil. Es ist die Anfangsstufe zur Ungerechtigkeit. Der erste Stein wird immer aus der Menge geworfen. Man erkennt den Werfer nicht, es sei denn, die Menge, die in seiner Nähe steht, hat dazu den Mut und die Moral. Das Meeraner „Mitteilungsblatt“ vom 20. November 1945 zeigt uns: der Mensch hat Schwächen, der Mensch will leben und tätig sein. Und in diesem Bemühen ist das Gute in ihm nicht kleinzukriegen.

 

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