Noch eine Viertelstunde Weg, denkt Lehmann, dann ist es geschafft. Er hebt den Kopf, setzt die Mütze ab und fährt sich mit der Hand durch das Haar, das noch dicht ist und schwarz, obwohl er die Fünfzig überschritten hat.
Er setzt die Mütze wieder auf.
Weiter!
Schwelle folgt auf Schwelle. Oft ist das Holz noch vereist, dann muss er achtgeben.
Da sieht er etwas Dunkles im Schnee, tief im Graben, neben dem ein Weg entlangführt. Vorsichtig klettert Lehmann hinab. Es ist ein Koffer, ein großer alter Koffer. Eine Eisschicht bedeckt ihn, die langsam schmilzt. Lange muss er hier schon liegen, sehr lange. Wie kommt ein Koffer in diese menschenleere Gegend? Lehmann kann keine Fußspuren entdecken.
Es ist ein geheimnisvoller Koffer. Das Schloss auf der einen Seite ist gesprungen, sodass Lehmann, als er sich hinhockt, vorsichtig den Deckel heben kann. Er blickt sich noch einmal um. Er ist allein.
Er hebt den Deckel an.
Kindersachen, sorgsam zusammengelegt, eine Hose, Strümpfe, ein Hemd, ein ...
Lehmann wird blass. Einen Augenblick lang setzt sein Atem aus. Er sieht eine Kinderhand! Er sieht ... Der Streckenwärter schnellt hoch, sein Herz rast. Er springt die Böschung hinauf auf die Schienen, läuft, läuft, läuft ... Er hat keine Angst mehr vor einem Sturz, er spürt keine Seitenstiche, er läuft, läuft keuchend, der Schreck treibt ihn vorwärts.
Seine Füße trommeln auf die Schwellen.
In seinen Ohren dröhnt es.
Weiter!
Er stolpert, aber er läuft weiter.
Ein Telefon!
Warum ist hier kein Mensch?
Weiß liegen die Felder zu beiden Seiten der Schienen, über die nun bald der D-Zug fahren wird, aber Lehmann denkt an keinen D-Zug, er denkt nur noch an eins, an das Telefon. Er stürzt, schlägt mit dem Kinn auf die Schienen, liegt einen Moment lang benommen, hetzt weiter, er spürt nicht das Blut auf den Lippen, sieht die Hand vor Augen, die er im Koffer sah. Die Kinderhand!
Im Koffer liegt ein totes Kind!