Hochsommer,
Wolfram war wegen des Ferienbetriebes und des damit verbundenen Personalmangels
in der Buchhandlung mächtig eingespannt, aber abends, als Dan versorgt war,
machten wir uns in die Bar um die Ecke auf. Ich hatte der Nachbarin unseren
Schlüssel gegeben, damit sie zwischendurch nach Dan schaute, allzu lange
wollten wir nicht bleiben. Wolf war in spendabler Stimmung: Als mir der Wein
nicht zusagte, den er bestellt hatte, ließen wir die zu drei Vierteln gefüllte
Flasche stehen und tranken nur noch Sekt mit Ananas. Außerdem gab's
Muschelpastete, ein stinkteures Gericht, das ich seither nirgends mehr gesehen,
geschweige denn gegessen habe, Ragout fin, Eis, französischen Kognak und Mokka
double - wir waren so richtig unvernünftig. Ich hatte ein blaues Azetatseidenkleid
mit Puffärmeln an und um den Hals eine knallige gelbe Bernsteinkette, das
Wertvollste, was ich an Schmuck damals besaß. Wolf trug helle Hosen mit Schlag
und ein quergestreiftes Hemd, er sah aus wie ein Seemann. Wir tanzten und waren
albern, und ich ahmte den Schlagzeuger nach, der sein Instrument betont
exaltiert bediente. Trotz unserer Ausgelassenheit aber dachten wir an unseren
Sohn und die Nachbarin und brachen auf, als es am schönsten wurde, gegen
Mitternacht. Wie um uns zu entschädigen, schlief Dan in dieser Nacht ruhig und
relativ lange.
Wenige Wochen danach missglückte unser Ostseeurlaub, und als einige Monate
vergangen waren, erfuhren wir zum ersten Mal von Dans Hörschaden. Unmöglich,
die Zahl der Konsultationen bei Ohrenärzten und Neurologen zu nennen, der
Aussprachen, die wir in Kliniken und Krankenhäusern hatten. Dans
Schlafschwierigkeiten wuchsen, er nervte uns mit seinem Starrsinn, seiner
Widerborstigkeit und einem ständigen monotonen Gequietsche. An eine Rückkehr in
die Schule war nicht mehr zu denken, die geplante Dissertation gab ich sehr
bald auf...
Dieses unaufhörliche Quietschen - es waren die Wassertropfen auf den Kopf, von
denen ich sprach. Ein steter I-i-Ton, von morgens bis abends, er bildete sich
über Jahre heraus, entwickelte sich aus dem Piepsen der ersten Monate, wurde
stärker und stärker. I-i ... , i-i ... , i-i ... , i-ih ...
Wenn ich den Kopf in die Höhe nehme und in mich hineinlausche, höre ich's, kein
Ohropax hilft, kein Schal um die Ohren, ich krieche unter die Bettdecke,
vergebens, selbst dort diese feinen, piksenden Nadelstiche.
Mit zwei, drei Jahren hatte Dan seine schlimmste Quietschphase. Ich nehme einen
beliebigen Tag heraus, einen, an dem unser Junge bis fünf oder sechs Uhr
morgens geschlafen hat; noch ist es dunkel, da weckt uns sein I-i ... , I-i ...
Wolf zieht sich die Decke über den Kopf, sein Arbeitstag beginnt etwas später,
ich versuch mich gleichfalls vor diesem Geräusch zu verstecken, aber nicht
lange, dann spring ich aus dem Bett. Schnell in die Küche, irgendwas holen,
worauf er herumknautschen kann, morgens ist er noch ausgeruht und am ehesten
abzulenken. Der Nuckel - auch wir waren zeitweise so vermessen, auf ihn
verzichten zu wollen, wir besannen uns bald anders -, ein Keks, etwas Zucker.
Manchmal hilft' s für eine halbe Stunde, manchmal nicht. Wie auch immer, wir
zwingen uns, bis halb sieben durchzuhalten. Das verlangt die Erziehung, um
sieben gibt's Frühstück und nicht eher, gerade gehörlose Kinder soll man an
feste Zeiten gewöhnen. Trotzdem, wenn ich aufstehe, ist der Tag schon lange
losgegangen. Er hat im Grunde gar nicht aufgehört, noch vom Abend vorher habe
ich Dans Quietschen im Ohr. Doch was mich mehr schafft - ich weiß, dass ich's
erneut bis zum Abend ertragen muss. Waschen, Zähne putzen, Kämmen, den
Morgenrock anziehn. In der Küche, die durch den Gang und zwei Türen von Dans
Zimmer abgetrennt ist - wir sind inzwischen umgezogen -, drehe ich laut das
Radio auf, klappre mit dem Geschirr, um den bohrenden I-i-Ton zu verdrängen.
Hierher dringt er nur leise, das Besetztzeichen eines Telefons aus weiter
Ferne, aber ich bin innerlich so auf ihn eingestellt, dass mich selbst dicke
Gummiwände nicht schützen könnten. Nur wenn Dan abschaltet, vermag auch ich
abzuschalten.
Das Frühstück nehmen wir getrennt ein. Dan, der uns mit seiner Zappligkeit die
Ruhe raubt und für jeden Bissen endlos lange braucht, kommt zuerst dran. Dann,
er ist wieder in seinem Zimmer, essen wir eine Kleinigkeit, ich am wenigsten,
denn ich muss ja nicht zur "Arbeit". Die eigentliche Tortur beginnt,
wenn Wolf weg ist, wie beneide ich ihn, dass er einfach so aus dem Haus gehen
kann. Es ist die Zeit, da ich mich bereits als Übersetzerin versuche,
wenigstens drei vier Seiten in der Woche will ich schaffen. Doch woher soll ich
die Konzentration nehmen. Ich setze mich im Wohnzimmer an den Tisch, Dan ist
nebenan mit irgendwelchem Spielzeug beschäftigt, das er freilich nur
herumwirft, und schon stimmt er seinen Gesang an. Eine halbe Seite, denke ich,
morgens bin ich noch am frischesten, einem verschollenen Raumschiff muss ich
auf die Spur kommen, der Verlag hat mir eine fantastische Erzählung anvertraut.
Also: "Petrow sah den Bordingenieur vielsagend an und schaltete das
Funkgerät auf Empfang ..." I-i ..., i-i ..., nein, das ist nicht das Funkgerät,
das ist mein Sohn, kann er denn nicht eine Minute damit aufhören. Ich springe
hoch, renne rüber, reiße die Tür auf. Er hört mich nicht kommen; er sitzt mit
dem Rücken zu mir, schaut auf die Wand, wo ein Sonnenkringel tanzt, und gibt
seine monotonen Laute von sich. Ich bin entwaffnet, doch damit ist mir nicht
geholfen. Um etwas zu tun, tippe ich ihn an, deute auf seinen Mund: Er soll ihn
schließen, still sein. Er sieht mich verständnislos an (das heißt, manchmal
glaube ich, dass er durchaus begreift, mich aber absichtlich herausfordern
will, und dann könnte ich mit Fäusten auf ihn losgehn), er verstummt für den
Augenblick. Ich kehre an meinen Arbeitsplatz zurück, greife zum Buch: "Die
beiden Männer, in ihren Sesseln nach vorn gebeugt, lauschten angespannt. Ihr
Ruf war nach draußen gedrungen in den unendlichen Kosmos - würde eine Antwort
erfolgen?" Die Antwort erfolgt nicht, jedenfalls im Moment nicht, mein
Sohn quietscht erneut los. Wie, zum Donnerwetter, soll ich da einen klaren
Gedanken fassen. Wenigstens zehn Minuten müsste man haben, um reinzukommen ...
Einen geriebenen Apfel, ja, das ist es, er soll sowieso viele Vitamine
erhalten. Ich sause also wieder in die Küche, reibe den Apfel, serviere ihn auf
einem Plasttellerchen. Dan ist erfreut, er strahlt mich dankbar an, aber er
möchte, dass ich ihm den Löffel in den Mund schiebe. Was hab ich davon, er soll
den Obstbrei selbst vertilgen, er kann das. Ich lasse Dan mit dem Teller
sitzen, kehre zu Petrow zurück, der nun, nach langem vergeblichem Warten auf
Antwort, den Kurs in Richtung eines fürchterlichen schwarzen Lochs ändert,
eines komprimierten Sterns, der alle Körper mit gewaltiger Anziehungskraft in
sich einsaugt. "Sie flogen mit Lichtgeschwindigkeit in der unermesslichen
Weite und Einsamkeit des Alls dahin." Ja, jetzt hab ich' s, langsam
beginne auch ich dahinzuschweben. Allerdings nicht mit Lichtgeschwindigkeit und
nur solange nebenan der geriebene Apfel reicht. I-i ..., i-i ..., i-i ... Ich
halte mir die Ohren zu, wäre ich doch fern von dieser Wohnung in der Einsamkeit
des unermesslichen Alls. Aber ich bin hier bei Dan, niemand stellt mir ein
Raumschiff zur Verfügung, und wenn, würde man mir mein Kind zwecks Betreuung
und mütterlicher Pflege mit auf die Reise geben. Und ich müsste es samt Gitterbett
in der Schlafkabine unterbringen. Gefangen bin ich, gefesselt, durch die Normen
menschlichen Zusammenhockens.