Durch das offene Hoftor fuhren sie auf die Dorfstraße. Eva Krüger war das dritte Mal in diesem Dorf, das so selbstverständlich da war, schon tausend Jahre und mehr, und das noch viel länger da sein würde. Sie betrachtete es, wie es still vor ihr lag, und es machte sie seltsam traurig. Ihr war klar, dass sie im Begriff war, es als ihr Zuhause anzunehmen. Sie kannte schon einige Leute. Frau Thiele hatte ihr erzählt, dass nebenan zwei Frauen wirtschafteten, Schwiegermutter und Schwiegertochter, der Mann der jüngeren sei im Krieg geblieben, und dass beide es mit ihrem sechzehnjährigen Knecht trieben, der nicht ganz richtig im Kopf sei, aber dazu wohl recht gut zu gebrauchen.
Sie wusste, dass der Bauer auf dem Hof gegenüber regelmäßig seine Frau schlug und manchmal die Kinder so verprügelte, dass sie tagelang nicht zur Schule gehen konnten. Sie hatte gehört, dass der Bauer in dem großen Haus an der Ecke es mit den Dienstmädchen trieb, dass er nie aufpasste und dass seine eigene Frau, die selber keine Kinder hatte und über alles schweigen musste, die Kinder mit einer Stricknadel abtrieb.
Es machte Eva Krüger traurig, nur schlimme Dinge von den Leuten zu wissen. Obwohl es ihr selbst so schlecht ergangen war, hoffte sie, dass die Menschen nicht nur schlecht waren.
Der Wagen stuckerte von der Dorfstraße auf einen Feldweg. Eva sah das frische Grün ringsum, die weißen und rosa Blüten an den Obstbäumen und den Löwenzahn auf den Wiesen, und so deutlich wie noch nie spürte sie, dass es für sie eine Zukunft geben würde. Die Milchkannen rutschten hin und her, sie drückten ihre Beine, morgen würde sie überall blaue Flecken haben. Als hätte ich sonst was gemacht, sie lächelte und beugte sich vor, um die Kannen festzuhalten. Sie war so beschäftigt, dass sie nichts mehr sah. Das Pferd fing an, im Trab zu laufen. Die Kannen drückten immer stärker gegen ihre Beine, die schmerzten. Sie rieb daran herum, doch sie sagte nichts. Sie biss die Zähne zusammen und hob ihren Kopf.
Als sie auf eine kleine Anhöhe gelangt waren, sah Eva das Dorf unten liegen, große und kleine Höfe, sie konnte Reimanns Hof erkennen und stellte fest, dass er einer der größten war. Der kleine Friedhof und die Kirche mit dem niedrigen Turm, dessen Spitze aussah wie ein umgedrehter Kessel. Die Schmiede, vor der Geräte rosteten. Sie sah Meyer, dessen Hals, das Gesicht, den gespannten Rücken, sah, wie die Hände die Leine hielten und das Pferd führten. Seltsam rieselte es ihr über den Rücken, die Beine, sie fühlte einen scharfen Schmerz im Leib.
Sie versuchte sich abzulenken und sah einem Hasen nach, der davonlief. Doch dann starrte sie wieder auf Meyers Hals, den kräftigen Nacken mit den kurz geschnittenen Haaren, die kleinen Ohren, die Haut darunter zog ihren Blick an. Sie konnte ihn nicht lösen und erschrak über ihren Wunsch, das alles mit den Fingerspitzen zu berühren. Schnell und verstohlen strich sie über ihre Brust, dann ballte sie die Hände zu Fäusten und schob sie unter die Schenkel. Obwohl sie genau wusste, dass es nicht wahr war, dachte sie: So ein Quatsch, so ein verdammter Quatsch ...
Als Meyer sich zu ihr umdrehte, fühlte sie sich ertappt. Sie musste ihn ansehen, einen jungen Mann, der jetzt ganz anders war als beim Mittagessen in der dunklen Bibliothek. Er schien heiter, lachte und zeigte dabei seine Zähne. Stolz wies er mit der Peitsche auf ein Feld und sagte: Auch unser Acker, zwanzig Morgen bestes Rübenland! Er sah, dass Eva rot geworden war, und obwohl er es eigentlich vermeiden wollte, wurde auch er rot. Schnell drehte er sich um und gab dem Pferd einen Schlag mit der Peitsche, dass es einen Satz machte.
Die Milchkannen flogen wieder gegen Evas Beine. Aua, dachte sie und hatte Mühe, sich aufzurichten. Danach rieb sie die schmerzenden Stellen, die schon ganz rot waren. Aua, murmelte sie und überließ sich ihren Schmerzen.
Das Pferd ging wieder im Schritt, und der Wagen schaukelte gemächlich dahin. Meyer kramte aus seiner Jackentasche eine Zigarette hervor, er steckte sie an und rauchte hastig.
Eva Krüger, die nicht gewusst hatte, dass der Mann rauchte, sah bloß auf seine Hände. Was wusste sie schon von diesem Mann, der ins Haus nur zum Essen kam und zum Schlafen wahrscheinlich, sie wusste nicht einmal genau, in welchem Zimmer er schlief. Jedenfalls war sie noch nie darin gewesen. Meyers Bett machte Frau Thiele. Doch Eva hatte etwas gesehen, das nicht für ihre Augen bestimmt gewesen war, etwas, das sie nicht wissen durfte. Daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie ließ sich gemächlich über die Feldwege kutschieren.
Auf einmal rief Meyer: Brr ...! Er sprang vom Wagen und band das Pferd an einem abgebrochenen Baum fest. Dann kamen schon die Kinder gelaufen.
Als Eva Krüger die Brote verteilte und Tee in Tassen goss, war Meyer unterwegs dorthin, wo sie die Rüben verzogen.
Eva sah, wie die Kinder ihre Hände nach dem Brot ausstreckten. Sie spürte, dass es nicht nur ein vorübergehender Hunger war. Sie blickte in die großen dunklen und ernsten Augen, in die blassen Gesichter. Und sie, die im Begriff war zu vergessen, wie viel Hunger sie selbst einst gehabt hatte, ahnte, dass es auch in Holzenau, diesem alten, reichen, etwas behäbigen Bauerndorf, Hunger gab. Und sie wusste, dass viele der Kinder, die immer noch ihre Hände ausgestreckt hielten, von weither gekommen waren wie sie selber, vielleicht auch zu Fuß.