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Der Landpostbote Zwinkerer und andere Erzählungen von Adam Scharrer
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
03.02.2025
ISBN:
978-3-68912-441-0 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 307 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Geschichte, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Politik
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Historischer Roman, Kriegsromane: Zweiter Weltkrieg
Angst, Armut, Bauernleben, Bauernnot, Desillusionierung, Dörfliches Leben, Drittes Reich, Erzählkunst, Familiengeschichten, Faschismus, Flucht, Front, Frontalltag, Gesellschaftskritik, Gewissen, Heimat, Heimatfront, Hoffnung, Innere Emigration, Krieg, Kriegsalltag, Kriegsheimkehrer, Kriegsverbrechen, Kriegszeit, Landbevölkerung, Menschlichkeit, Moral, Mut, Nationalsozialismus, NS-Regime, Postbote, Schicksal, Schuld, Soldaten, Soldatenschicksale, Überleben, Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Verlust, Verrat, Wahrheit, Widerstand, Zeitzeugnis, Zivilcourage, Zusammenbruch, Zweiter Weltkrieg
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DER MANN, DER SICH DURCH SCHWEIGEN RETTEN WOLLTE

Der Soldat Rambach schreckte aus einem unruhigen Schlaf auf, obwohl er noch eine bleierne Müdigkeit in allen Gliedern spürte. Diese sonderbare schwere Müdigkeit hatte ihn schon am Abend befallen und sie war anders als sonst. Niederdrückend und von einer nervösen Unruhe war sie, und der Schlaf hatte sie nicht vertreiben können. Wie ein verbissener Zweikampf zwischen Unruhe und Schlaf war es; quälende Träume und die Erinnerungen der letzten Monate hatten sich zu einem spukhaft schrecklichen Tanz vereinigt und Rambach so lange attackiert, bis er nun endlich aufrecht saß und ins Dunkle starrte.

Aber nun war er ganz wach und außer Zweifel, wo er sich befand. Rechts von ihm lag Kehlmann, zusammengekauert wie ein Igel, das Gesicht zur Brust geneigt, die Decke über den Kopf gezogen, als wolle er sich auch im Schlaf möglichst absondern. Rambach wusste von Kehlmann nur, dass dieser Kupferschmied war. Er war sehr wortkarg, obwohl er offensichtlich über viele Dinge seine eigene Meinung hatte. Als die deutschen Truppen auf dem Vormarsch mit schonungsloser Grausamkeit gegen die zurückgebliebene Zivilbevölkerung vorgingen, war nie ein Wort der Billigung über seine Lippen gekommen. Einmal trug er seine Abscheu wohl gar zu offen zur Schau, denn ein betrunkener Unteroffizier hatte ihn angerempelt und gesagt: „Nun, warum ziehst du so eine Fresse? Tun dir wohl leid, diese bolschewistischen Verbrecher?“ Da gab ihm Kehlmann zur Antwort: „Entschuldigen, Unteroffizier – ich habe die Nachricht erhalten, dass meine Mutter in Osnabrück durch englische Fliegerbomben getötet worden ist.“

Rambach hatte diese Äußerung zufällig gehört und dann erfahren, dass sie nicht der Wahrheit entsprach. Kehlmann hatte den Unteroffizier nur verblüffen wollen, und das war ihm gelungen. Aber diese Antwort war Rambach trotzdem oder gerade deswegen so lebendig im Gedächtnis geblieben. Und auch jetzt war sie ihm gegenwärtig, als Kehlmann sich auf die andere Seite drehte. Gleichsam wie ein Motto war sie in seinem Hirn haftengeblieben und überschattete alle andern Erlebnisse: den immer neuen Einsatz frischer Reserven und deren Vernichtung durch die russische Gegenwehr, die brennenden Städte und Dörfer, die peitschende deutsche Propaganda, die die Einnahme von Moskau und die Zerschlagung der russischen Armeen in allernächster Zeit prophezeit hatte. Dann war plötzlich Schnee gefallen, strenge Kälte war eingetreten und das Regiment hatte in einem Dorf westlich von Kaluga Quartier bezogen; angeblich sollte es in Reserve bleiben. Die Berichte des Oberkommandos der Wehrmacht wussten trotz krampfhafter Bemühungen bei der Herauskehrung deutscher Heldentaten keine Fortschritte in der Richtung auf Moskau zu melden. Das Thermometer war auf dreißig Grad unter Null gesunken und die Straßen waren tief verschneit, die Zufuhr von Material aller Art stockte, weil die Lastkraftwagen nur mit großen Schwierigkeiten durch den Schnee kamen und das synthetische Benzin in der großen Kälte zu kleinen Kristallen erstarrte, anderer Treibstoff aber in ausreichender Menge nicht vorhanden war. Lebensmittel und warme Wintersachen waren rar, und der Abgang an Kranken wuchs beträchtlich; in der Hauptsache waren es Frostschäden und Erkältungskrankheiten, die der Truppe zu schaffen machten.

Rambach, mit seinen dreiundvierzig Jahren, war nun eineinhalb Jahre an der Front. Er hatte für November, spätestens Dezember auf Heimaturlaub gehofft, um seine in Hamburg wohnhafte Familie besuchen zu können. Aber an Urlaub war vorerst nicht zu denken und Rambach empfand ein Grauen vor dem kommenden Tag. Die Kompanie war mit dem Ausbau ihrer Stellungen beschäftigt; eine Arbeit, die wegen der Kälte und der körperlichen Anstrengungen Missstimmungen hervorrief und die Soldaten in dem Verdacht bestärkte, dass es vorerst vorbei war mit dem Vormarsch und ihnen nun ein schrecklich langer Winter bevorstehe. Was bis dahin wohl sein würde? … Der Teufel mochte das wissen.

Diese Antwort gab sich Rambach selbst, und er sagte sie laut in die Nacht hinein, so dass sein Nebenmann sie hören konnte. Pfannschmied hieß der, ein noch junger Mensch, auch aus Hamburg, Tischler von Beruf wie Rambach, und der Zufall wollte, dass sie, die beide bei der Firma Blohm & Voß in einer Abteilung gearbeitet hatten, nun auch hier an der Ostfront in dieselbe Kompanie gekommen waren.

„Was weiß der Teufel?“, fragte Pfannschmied den neben ihm sitzenden Rambach, und dieser war erst gar nicht willens, eine Antwort zu geben. Aber der herausfordernde Ton, den Rambach so gut an diesem Pfannschmied kannte, erinnerte ihn in aufdringlicher Weise an eine andere Frage, die Pfannschmied einige Wochen vorher in einem andern russischen Dorf an Rambach gestellt hatte. Ein Mann hatte dort an einem Galgen gehangen, ein großer, hagerer, alter Mann mit schwarzem Bart, steif gefroren, schauerlich anzusehen. Und am Nachmittag, als die Kompanie Quartiere bezog, hatte Pfannschmied Rambach gefragt: „Hast du den Bolschewisten hängen sehen? Ist das nicht zum Totlachen?“ – „Zum Lachen ist das meiner Ansicht nach gar nicht!“, hatte Rambach geantwortet und dann hartnäckig geschwiegen. Auch jetzt schwieg er. Da fragte Pfannschmied weiter: „Warum schläfst du nicht? Du spinnst wohl?“

Und diese weitere Frage, die recht vieldeutig und verfänglich klang, war voll offener Feindseligkeit, einer Feindseligkeit, die noch von der Firma Blohm & Voß her zwischen Rambach und Pfannschmied wucherte und stets offen in Erscheinung trat, wenn Rambach und Pfannschmied zu einer beruflichen Arbeit kommandiert wurden. Rambach hatte nämlich bei Blohm & Voß als Meister gearbeitet, und er war ein erfahrener Tischler. Vor dem Krieg hatte er ein eigenes Geschäft besessen, aber damit war es immer weiter abwärts gegangen. Er war überschuldet, aber für Kredite an Handwerksmeister hatte der Nazistaat wenig übrig, und darum hatte Rambach den schon früher in Erwägung gezogenen Plan verfolgt, in einem großen Werk als Abteilungsleiter unterzukommen. Als die deutsche Rüstungsindustrie mit Volldampf zu arbeiten begann, war ihm das dann bei der Firma Blohm & Voß gelungen. Er hatte sein Geschäft aufgegeben, aber Wohnung und Werkstatt gerettet und in seiner freien Zeit noch manche Arbeit auf eigene Rechnung erledigen können. Zufrieden war er mit seinem Schicksal nicht, aber er hoffte irgendwie auf bessere Zeiten und wollte dann wieder von vorn anfangen. Seiner politischen Auffassung nach gehörte er zu den Demokraten, die im Alten wurzeln und den Fortschritt nur an ihrer eigenen Existenz messen. Er lehnte daher auch alle linksgerichteten Bestrebungen ab, von denen er eine Bedrohung der Verhältnisse befürchtete, aus denen er gekommen war. Er unterhielt auch fast gar keine persönlichen Beziehungen; die Jahre nach 1933 waren für ihn einsame Jahre gewesen. Er hatte sich völlig seinem Beruf gewidmet und die Firma war mit ihm zufrieden gewesen.

Aber in dieser Zeit wurde ein Geist herangezüchtet, der unentwegt auf Krieg zusteuerte, und die sich häufenden Aufträge bei der Firma Blohm & Voß lagen ganz in dieser Linie. Als dann die deutsche Armee in Polen einbrach, hätte Rambach sich am liebsten ganz von allem zurückgezogen, wie seinerzeit, da er noch als recht junger Mann den Entschluss fasste, von seinem Gesellenlohn jeden Pfennig zu sparen, den er nicht unbedingt zu seinem bescheidenen Lebensunterhalt benötigte, um sich auf diese Weise ein eigenes Geschäft zu gründen. Er hatte sich eine kleine Werkstatt mit Einrichtung in hartnäckiger Weise erhungert. Der Sprung vom Lohnarbeiter zum selbstständigen Handwerksmeister war ihm nicht leicht geworden, aber er war ihm gelungen.

Nun suchte Rambach wieder auszuspringen, aber er sah keine Möglichkeit für einen Sprung aus seiner Lage. Selbst das Lavieren wurde immer schwerer. Als Abteilungsmeister hatte er im Betrieb den vorlauten SA-Burschen gegenüber eine gewisse Distanz wahren können, wobei ihm auch die Tatsache zugute kam, dass die lautesten Schreier in ihrem Beruf größtenteils die Untüchtigsten waren. Er hatte sich gerne auf seine Weise an ihnen gerächt, aber als er dann selbst Soldat werden musste, waren Burschen solcher Art sehr oft seine Vorgesetzten, und er hatte einfach zu gehorchen und zu schweigen.

Mit der Zeit hatte jedoch dieses Schweigen ein gewisses Eigenleben bekommen und war zu einer allgemeinen Erscheinung geworden. Als fast ganz Europa durch die deutschen Siege in eine Hungerwüste verwandelt, die deutschen Heere jedoch im russischen Winter steckengeblieben waren, breitete sich dieses Schweigen wie eine Seuche auch an der Ostfront aus, und auch eine Charakterisierung für diese Schweiger war bereits vorhanden. „Spinner“ wurden sie genannt und man hatte sie im Verdacht, dass sie nur auf eine Gelegenheit warteten, aus dem schier ausweglosen Schlamassel irgendwie herauszukommen.

Rambach verstand daher sehr wohl, worauf Pfannschmied abzielte, als dieser fragte: „Du spinnst wohl?“, und er fühlte sich gewissermaßen auf frischer Tat ertappt. Doch bei weiterer Überlegung schien es ihm, als hätte er mit seiner Frage: „Das weiß vielleicht der Teufel?“ nichts Fassbares gesagt. Er hatte Fieber, das spürte er, die Frage konnte sich also sehr wohl auf seine Krankheit beziehen. Aber nun erst spürte er auch bis ins Innerste, wie er diesen Pfannschmied hasste, diesen vierundzwanzigjährigen Lümmel, der sich einen Tischler nannte und noch nicht einmal einen einwandfreien Fensterrahmen zustande brachte; der nicht nur wegen Mangel an Erfahrung ein Pfuscher war, sondern überhaupt ein völlig unzuverlässiger und unernster Mensch, der sich ausgezeichnet aufs Plündern, Lügen, auf Gesinnungsheuchelei und Angeberei verstand, ein von Grund aus roher Patron. ,Dieser Bursche soll sich ja nicht einbilden, dass er mich ins Bockshorn jagen kann', sagte sich Rambach und besann sich darauf, dass der Hauptmann seine Berufsarbeit schon zu würdigen wusste und sich auch bereits günstig über sie geäußert hatte, ohne Pfannschmied dabei zu erwähnen, und deswegen fühlte sich Rambach stark genug, um nach einiger Zeit in aller Ruhe und mit allem Nachdruck zu antworten: „Mich kannst du am Arsch lecken!“

Dann war es wieder still im Unterstand, so still, dass man die Schnarchtöne der einzelnen Soldaten voneinander unterscheiden konnte, und man hörte das Knirschen des gefrorenen Schnees unter den Sohlen des draußen patrouillierenden Postens. Pfannschmied sagte nur noch gehässig: „Reg dich nur nicht auf, Kamerad!“ Aber vielleicht hörte auch er nun schon schärfer auf das heftige Maschinengewehrfeuer der linken Nachbarkompanie und die dumpfen Einschläge der Granaten und Minen und darauf die hellknallenden Geschütze russischer Panzer – und dann hämmerten die Maschinengewehre im eigenen Abschnitt los.

Hätten die Russen nur in der erwarteten Richtung angegriffen, wäre zur Verteidigung wohl alles in Ordnung gewesen, aber die Kompanie wurde schon nach kurzem Kampf von links her durch Flankenfeuer gefasst und die telefonische Verbindung mit der Nachbarkompanie und dem Bataillonsstab riss ab. Das alles war zuerst ganz unbegreiflich. Wenn ein Durchbruch erfolgt war, musste ja die erste Stellung bereits überrannt sein. Aber bald war kein Zweifel mehr darüber, dass dies so war. Vorgeschobene Artillerie und Panzer, in Hast beladene Kraftwagen kamen zurück und fuhren ohne Aufenthalt weiter. Das Flankenfeuer der russischen Feldartillerie und der Granatwerfer wurde dichter und hatte offenbar die Absperrung der einzigen Rückzugsstraße zum Zweck. Als nun auch die Kompanie Befehl zum Rückzug erhielt, war die Panik vollkommen.

Wo sich ein Wagen in Bewegung setzte, war er rasch überfüllt, und da einige wegen Frostschäden oder Treibstoffmangel nicht betriebsfähig waren, gestaltete sich der Rückzug der Kompanie zu einer hastigen Flucht. Rambach war kaum fähig, sich auf den Füßen zu halten. Die schneidende Kälte hatte ihn mit so verbissener Gewalt erfasst, dass er kaum zu atmen vermochte und nur ganz verschwommen wahrnahm, was um ihn vorging. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: nicht zurückbleiben, nicht erfrieren! Er warf deshalb sein Gewehr weg und versuchte einige Male, auf vorbeifahrende Geschütze oder Transportwagen zu klettern, die stoppen mussten, weil die vor ihnen steckengebliebenen Fahrzeuge die Straße versperrten. Aber diese Versuche misslangen. Die auf dem Rückzug befindlichen Soldaten verteidigten ihren Platz rücksichtslos, um nur mitzukommen. Wie von magischer Kraft getrieben, torkelte Rambach zu Fuß weiter, immer in Angst, von hinten überfahren oder von einer der ringsum krepierenden russischen Granaten getroffen zu werden, die die hart gefrorene Erde unter dem Schnee aufrissen und diesen in riesigen Fontänen hochwirbelten. Von einer dieser Schneefontänen wurde Rambach erfasst und mit solcher Gewalt zu Boden geworfen, dass nur ein stechender Schmerz in der linken Schulter ihn wieder zum Bewusstsein brachte. Er war von einem der hochgeschleuderten, hart gefrorenen Erdbrocken getroffen worden, und als er sich aus dem Schnee gewühlt und erhoben hatte, wurde ihm so übel, dass er erbrechen musste. Der singende Wind peitschte Schneewehen über ihn hinweg. Fast schon ohne Kraft und Besinnung stolperte er über einen steifgefrorenen Soldaten und sah, dass dieser offenbar vom Raupenband eines flüchtenden Panzers erfasst und schrecklich verstümmelt worden war.

Eine Stimme sagte plötzlich: „Rambach, bist du’s?“ Rambach wusste sofort, dass es Kehlmann war. – „Ja, Kamerad“, antwortete er und spürte dabei, wie eine Schneewehe sich um ihn auftürmte. Unter Aufbietung aller Kräfte schrie er gegen den Sturm an: „Ich kann nicht mehr weiter, Kehlmann! … Ich bin verloren!“ – „Vielleicht geht es doch noch?“, sagte Kehlmann in ermutigendem Ton und half Rambach aus der Schneewehe. „Wir müssen irgendwo unterkommen, sonst sind wir beide verloren.“ Dann sagte er noch, dass sie in der Nähe der Endstation einer Feldeisenbahn sein müssten und dass dort einige Unterkünfte seien. „Vielleicht finden wir sie. Sie müssen hier links sein, wo der Wald beginnt … Ich hab’ noch etwas Zwieback bei mir und auch Streichhölzer.“

Kehlmann, der sein Gewehr bei sich trug, war Rambach beim Gehen behilflich, und diese Hilfsbereitschaft erweckte neue Hoffnung und neue Kräfte in Rambach. Er strengte sich sehr an, dem Kameraden nicht zu sehr zur Last zu fallen, und so erreichten sie den Wald, der einigermaßen vor dem Sturm schützte. Hier waren auch die Wagenspuren noch nicht völlig verweht, nach ihnen konnte Kehlmann sich irgendwie orientieren. Nach qualvollem Suchen gelangten sie schließlich in dem hohen Schnee zu einem der provisorisch erbauten Blockhäuser. Der Sturm hatte das Dach und den Schornstein kahlgefegt, sonst hätten sie die Umrisse dieses Blockhauses wohl kaum bemerkt. Der Zugang war verschneit und verweht. Die Tür ließ sich nur mit Mühe so weit öffnen, dass beide eintreten konnten.

Papier und Konservenbüchsen, Riemenreste und Reste von Schnüren, alles deutete darauf hin, dass das Blockhaus sehr rasch geräumt worden war. Auf einer Holzpritsche lagen zwei zerlegene Strohsäcke und einige Decken, an der Wand baumelte ein Draht, an dem wohl der Telefonhörer gehangen hatte; in der Mitte des Raumes stand ein großer Tisch, um ihn herum einige Stühle und Hocker, und auch ein gusseiserner Ofen war da. „Großartig!“, sagte Kehlmann nach einem flüchtigen Blick in die Runde. „Erfrieren werden wir vorerst nicht.“ Er entledigte sich rasch seines Rucksackes, suchte Streichhölzer hervor und probierte eines. Es brannte. „Gerettet!“, stellte er triumphierend fest. „Von solchen Kleinigkeiten hängt manchmal das Leben ab.“ Rambach hatte sich auf einen der Strohsäcke fallen lassen.

Er war völlig erschöpft, aber doch so voll Erwartung und Spannung, dass er noch wie gelähmt dasaß, als Kehlmann schon die Decken Rambachs auf einem der Strohsäcke ausbreitete. Unheimlich still war es in dieser Hütte, nur vereinzelte Schüsse waren zu hören. „Wenn wir hierbleiben, schnappen uns doch totsicher die Russen“, meinte Rambach mit lächerlicher Besorgnis, denn es war ihm anzusehen, dass er am Ende seiner Kraft und an einen weiteren Marsch seinerseits gar nicht zu denken war.

„Für dich ist es höchste Zeit, dass du dich hinlegst und warm zudeckst, sonst schnappt dich der Teufel“, antwortete Kehlmann. „Und sollten unterdessen die Russen kommen, dann lass sie nur kommen! Die Hauptsache ist doch, dass wir nicht als Gefrierfleisch liegenbleiben. Meinst du nicht auch?“

Rambach erwiderte nichts, aber er gestand sich ein, dass er ohne die Hilfe des Kameraden wahrscheinlich schon irgendwo erfroren läge, und er erschauerte bei dieser Vorstellung. Unterdessen hatte Kehlmann das Lager Rambachs zurechtgemacht und sagte zu ihm: „Zieh die Stiefel aus und leg dich hin, ich werde tüchtig einheizen.“

Aus nördlicher Richtung war immer noch Artilleriefeuer und das Knattern von Maschinengewehren zu hören, aber das Feuer auf der Straße hatte nachgelassen, scheinbar war der Rückzug der deutschen Truppenteile, die sich der Umklammerung der Russen hatten entziehen können, beendet. Nur wenige Streusalven unterbrachen hin und wieder die Stille. Ein Geschoss platzte unweit des Blockhauses, in dem Rambach gerade unter seine Decke kroch und Kehlmann die Trümmer eines Hockers in den brennenden Ofen steckte.

„Menschenskind“, stöhnte da Rambach noch einmal auf, „Menschenskind, die halten direkt auf die Rauchfahne!“

„Daran hab’ ich auch schon gedacht“, sagte Kehlmann seelenruhig, „doch bei dem Schneegestöber wird wenig von Rauch zu sehen sein. Ohne Feuer aber erfrieren wir, das ist totsicher.“

Er war offensichtlich erfreut über das lustig knisternde Feuer. Nun füllte er sein Kochgeschirr mit Schnee, stellte es auf den Ofen und untersuchte die Tür von innen. Sie schloss ziemlich dicht und war mit einem stabilen Riegel versehen. Dann verstopfte er die Ritzen an der Tür und an dem kleinen Fenster mit Lappen. Der kleine Ofen wurde rasch rot glühend und die Luft erwärmte sich erstaunlich schnell. Und nun kochte auch schon das aus dem Schnee gewonnene Wasser. Kohlmann brühte Tee auf und reichte Rambach den heißen Trunk, dazu einige Feldzwiebäcke. Rambach trank mit Behagen, aß die Zwiebäcke auf und sagte dann: „Ich danke dir, Kamerad … Ohne dich wär’ ich verloren … Vielleicht kann ich es dir einmal vergelten.“

„Hat nichts zu sagen!“, meinte Kehlmann. „Wie fühlst du dich denn so im Allgemeinen? Du hattest doch wohl die vergangene Nacht schon Temperatur?“

„Ja, letzte Nacht fing das an. Ich hab’ wohl eine Grippe im Balg. Wenn ich jetzt fortgehen sollte, ich glaube, ich könnte nicht mehr auf den Füßen stehen, so bleiern liegt es mir in allen Knochen. Deswegen bin ich doch auf keinen Wagen hinaufgekommen.“

„Hast du besondere Schmerzen?“

„Nein, eigentlich nicht, außer Kopfschmerzen.“

„Da, nimm!“ Kehlmann reichte ihm eine Aspirintablette. „Vielleicht kannst du schwitzen. Hoffentlich hast du dir keine Lungenentzündung aufgehalst, das könnte unangenehm werden.“

„Hoffentlich nicht“, sagte Rambach, und dies klang recht ungläubig.

„Nimm noch eine Tablette“, sagte Kehlmann, „und auch noch einen Becher heißen Tee.“ Dann legte er ihm noch den Mantel über die Decke, kontrollierte den Puls und stellte fest: „Scheinbar ist die Temperatur ziemlich hoch, aber hier bist du nicht schlechter aufgehoben als in einem Feldlazarett.“

Darauf setzte Kehlmann sich an den Tisch, kramte aus seinem Rucksack ein Brot und eine Konservenbüchse mit Fleisch und aß mit großem Appetit. „Du hast aber ganz gut vorgesorgt“, bemerkte Rambach nach einer Weile, „Brot, Fleisch, Zwieback, Tee und Arznei, was hast du denn so alles eingepackt, und wie hast du denn das alles schleppen können hei dem Schneesturm?“

„Man muss auf alle Fälle immer für einige Tage mit dem Nötigsten versorgt sein“, sagte Kehlmann. „Solange der kleine Vorrat reicht, kannst du übrigens mitessen, willst du?“

„Und wenn wir morgen oder gar übermorgen noch hier festsitzen?“, wandte Rambach ein. „Ich hab’ weiter nichts als einen Beutel Zwieback und etwas Tabak.“

„Tabak? Großartig!“ Kehlmann kaute mit beiden Backen, schnitt für Rambach ein Stück Brot ab, belegte es mit Konservenfleisch und reichte es ihm. „Am besten ist, wir packen mal aus, was wir so haben, damit wir eine gewisse Übersicht erhalten.“

Es war nicht viel, was da zum Vorschein kam. Ein Beutel Zwieback, etwa zwei Kilo Brot, ein halbes Päckchen Tabak, ein halbes Päckchen Tee, die Fleischbüchse; Rambach hatte auch noch eine Schachtel mit Bouillonwürfeln. „Wenn wir uns mit zwei Mann keinen Zwang antun, reicht es nicht lange“, meinte Kehlmann treuherzig. „Aber unter Umständen auch eine Woche. Doch vielleicht finden wir hier in der Nähe etwas … In der Eile bleibt manchmal einiges zurück.“

„Vielleicht auch nicht, zumindest nichts Essbares“, sagte Rambach noch, dann lähmte ihn wieder die bleierne Schwere. Von der mit Konservenfleisch belegten Brotschnitte kostete er nur etwas und ließ sie dann liegen. Wie aus einem Traum heraus betrachtete er Kehlmann, der neben dem glühenden Ofen hockte und weiteraß. Es wurde nun bereits dunkel und als Licht hatten sie nur Holzspäne. Rambach musste in der Nacht aufstehen, um seine Notdurft zu verrichten. Kehlmann half ihm aus dem Bett und entzündete einen Lichtspan. „Mach doch das Licht aus, damit können wir uns leicht verraten!“, protestierte Rambach.

„Hast du Angst?“, fragte Kehlmann. „Vor wem denn? Die Deutschen haben zu tun, dass sie aus dem Sack herauskommen, in dem sie eingeschnürt sind. Und wenn die Russen kommen, kann das vielleicht unsere Rettung sein. Im andern Falle sind wir verdammt auf gut Glück angewiesen, noch dazu bei deinem Zustand.“

„Ja, das sind wir“, sagte Rambach und schwieg dann. Als er wieder unter seine Decken kroch, spürte er, dass er gefährlich krank war. Kehlmann fuhr fort, Kisten und Hocker zu verfeuern, um den Raum warm zu halten. Von draußen war das Sausen und Pfeifen des Windes und das durchdringende Ächzen der vom Sturm bewegten Bäume zu hören und das Brechen der schneeüberladenen Äste und Kronen.

Diese Sprache des russischen Winters war das einzige, was Rambach in den nächsten drei Tagen wahrnahm. Er lag mit sehr hohem Fieber und nahm von der Anwesenheit Kehlmanns fast keine Notiz. Nur ein Ausruf hin und wieder erinnerte daran, dass in seinen Fieberfantasien Kehlmann eine Rolle spielte: „Nimm mich mit, Kehlmann!“, stöhnte er auf, oder: „Kehlmann, du willst zu den Russen überlaufen, sag’ es mir offen und ehrlich … Warum bist du zurückgeblieben? … Du bist doch gesund und gut auf den Füßen …“ Ja, Soldat Rambach war immer noch auf dem Marsch im Schneesturm und gepeitscht von Todesangst, denn er stöhnte auch manchmal auf: „Nur nicht liegenbleiben … Nur nicht erfrieren …“

Als er schließlich aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, saß Kehlmann mit besorgter Miene an seiner Pritsche, aber diese Besorgnis verflüchtigte sich sofort, als Rambach sagte: „Ich schwitze!“ – „Wirklich?“, fragte Kehlmann und befühlte die Stirn des Kranken. Sie war feucht. „Großartig!“, rief er wieder einmal, und dieses „großartig!“ setzte Rambach immer erneut in Erstaunen. In der Kompanie hatte Rambach dieses Wort nie aus dem Munde Kehlmanns vernommen. Überhaupt hatte der sich dort ganz anders gegeben. Still und schweigsam war er gewesen inmitten seiner Kameraden, wie der einsamste und verlassenste Mensch. Und hier, in der einsamen Schneewüste, war er wie umgewandelt, so voller Unternehmungsgeist und Zuversicht, dass Rambach sofort wieder im Bilde über seine Lage war.

„Wie lange sind wir eigentlich schon hier?“, fragte er.

„Vier Tage.“

„Und wie sieht es aus? Ist von den Unsrigen etwas zu merken? Oder von den Russen?“

„Von den Deutschen vorerst gar nichts“, antwortete Kehlmann. „Und unsere frühere Stellung ist, scheint‘s, von den Russen besetzt. Manchmal sind einige Schüsse zu hören, sonst ist alles um uns still und menschenleer, bis auf ein paar alte Leute, Russen, die von irgendwo hergekommen sind und nicht weit von uns in einem Unterstand an der Feldbahn hausen. Sie sind gewissermaßen unsere Nachbarn.“

„Hast du mit ihnen gesprochen?“

„So gut es geht, ja. Sie waren natürlich zu Tode erschrocken, als plötzlich ein Deutscher vor ihnen auftauchte, aber nun sind sie beruhigt.“

„Wieso beruhigt!?“

„Ich hab’ ihnen gesagt, dass wir den verfluchten Krieg satt haben bis an den Hals und ihn von Anfang an nicht wollten, und dass wir uns für unser eigenes Volk schämen bis auf den Grund unserer Seele für alles, was wir dem russischen Volk angetan haben. Und falls sie eine russische Patrouille treffen, hab’ ich ihnen gesagt, dann sollen sie dieser russischen Patrouille unseren Aufenthalt melden, um Missverständnisse zu vermeiden.“

„Darauf steht Todesstrafe!“, sagte Rambach nach einer Weile, und dies sollte wohl die Einleitung zu einer sehr ernsten Diskussion sein, wenn er nicht durch ein lautes Lachen Kehlmanns, aber auch durch seine körperliche Verfassung daran gehindert worden wäre. „Ich muss auf den Eimer!“, sagte er plötzlich und wollte aus den Decken. Kehlmann hinderte ihn daran. „Willst dich wohl jetzt noch auf den Tod erkälten!“, schimpfte er und brachte eine alte Blechschüssel, die er ihm unterschob. „Du dampfst ja wie ein Braten!“, sagte er. „Genier dich nur nicht, die beiden vergangenen Tage hast du dich auch nicht vor mir geniert.“

„Ach, was ist der Mensch doch für eine hilflose Kreatur!“, philosophierte Rambach in einer Anwandlung von Schamgefühl.

Kehlmann verstand sehr wohl, dass dieser Stoßseufzer auch als Verlegenheitskommentar für die Bemerkung gemeint war: „Darauf steht Todesstrafe!“

Kehlmann frottierte Rambach mit einem Lappen trocken und wendete Matratze und Decken. Dann machte er sich eine Weile am Ofen zu schaffen, kam dann mit einem Töpfchen Reisschleim ans Bett und bemerkte: „Zum Glück hab’ ich Reis aufgetrieben. Ich mach’ dich aber darauf aufmerksam, dass der von den Russen ist. Wegen der Todesstrafe nämlich sag’ ich dir das.“

Rambach löffelte gehorsam den Reisschleim und nach einer Weile antwortete er: „Ich wollte nur sagen, Kamerad Kehlmann, dass wir in eine Falle geraten sind … Wie kommen überdies plötzlich diese Russen hierher? Du sagtest doch, es sind alte Leute.“

„Die Unsrigen haben auf ihrem Rückzug die Dörfer niedergebrannt, jedes einzelne Haus, und dadurch haben sie Menschen und Vieh dem schauerlichen Frost ausgeliefert. Es muss furchtbar gewesen sein. Den alten Leuten sitzt jetzt noch der Schrecken in den Gliedern, und sie sind nur wie durch ein Wunder hier angekommen und untergekrochen, wie wir auch. Auf den Feldbahngeleisen haben sie sich entlanggesucht und das war ihre Rettung. Wie viel unschuldige Menschen aber durch die Schuld der Unsrigen im Frost umgekommen sind, das ist eine andere Sache, Kamerad Rambach.“ Aus dieser Antwort klang eine von Rambach bis dahin unbemerkte Bestimmtheit und Gereiztheit. „Die Unsrigen“ war ein Ausdruck, den Kehlmann sonst nie gebrauchte, wenn er von der deutschen Armee sprach. Er klang anklägerisch und feindselig, und es schien Rambach, als wäre auch er in diese Feindseligkeit mit einbezogen. Und während er noch nach einer Antwort suchte, fuhr Kehlmann fort: „Dass wir in einer Falle sitzen, trifft meiner Ansicht nach nicht ganz zu, wenigstens nicht für mich. Ich habe in einer Falle gesessen, solange ich Zwangssoldat in meiner Kompanie war. Da war nirgends ein Loch, durch das man heraus konnte, und ich fühlte mich trotzdem verantwortlich für jede Schurkerei und jede Schande, die wir auf uns geladen haben. Aber jetzt hoffe ich loszukommen von dieser Mordbrennerei, und ich käme mir vor wie der elendeste Lump auf dieser Welt, wenn ich nicht die erste Gelegenheit dazu benutzte. Und das, was ich empfinde, was ich fühle und denke, das will ich den Russen sagen. Ich will vor mir selber bestehen können und deswegen müssen wir uns offen aussprechen, damit auch zwischen uns Klarheit besteht.“

„Ich hab’ doch auch nicht gewollt, was geschehen ist. Aber im Krieg werden die Menschen eben zu Bestien, hüben und drüben“, sagte Rambach in hilflosem Ton. Ganz verzweifelt und ermattet saß er vor seinem Reisschleim,

„Das sind Redensarten, die zu nichts verpflichten“, antwortete Kehlmann ärgerlich. „Dafür macht man dann am Ende den lieben Gott verantwortlich … oder den Zufall. Auch dafür, dass du jetzt hier bist. Bei mir ist es aber kein Zufall, dass ich hier gelandet bin, sondern Absicht. Und meine weitere Absicht ist dir ja nun bekannt.“ Kehlmann schleppte jetzt Holzknüttel in die Hütte, zersägte sie und hackte sie klein. Rambach schlief ein und schlief die ganze Nacht durch. Als er erwachte, roch die Hütte nach Gebratenem, und neben dem Ofen lag ein grobknochiger Hund, der ihn bei seiner ersten Bewegung drohend anknurrte, sich aber sofort beruhigte, als Kehlmann zur Tür hereinkam und ihn anrief: „Den lass in Ruh, Wolf, der gehört zu uns.“ Der Hund gehorchte sofort, als wäre er schon von jung auf an Kehlmann gewöhnt.

„Er sieht wahrhaftig aus wie ein Wolf“, stellte Rambach fest. Aber mit Wolf und dem auf dem Ofen schmorenden Fleisch waren die Überraschungen für Rambach noch nicht zu Ende. Kehlmann trug nämlich einen Schafpelz, dazu eine Pelzmütze und Filzstiefel, und als ihn Rambach erstaunt fragte: „Wie bist du denn zu all den Sachen gekommen?“, berichtete Kehlmann: „Die haben wir dem da zu verdanken“, und er streichelte dem Hund den Kopf, dass dieser freudig an ihm hochsprang. „Ich hab’ hier in der Gegend nach etwas Essbarem herumgesucht, hab’ aber nichts gefunden als ein paar erfrorene Krähen und einen steinhart gefrorenen Pferdekadaver. Dann sind aber unsere Nachbarn aufgetaucht, und wie ich mit ihnen Bekanntschaft schloss, hörten wir meinen Hund heulen, ziemlich weitab, in der Richtung zur Endstation der Feldbahn. Ich wollte mich schon an dem Pferdekadaver schadlos halten, entschloss mich aber dann, den Hund zu erschießen, wenn ich ihn finden sollte. Ich fand ihn schließlich vor einem ziemlich geräumigen Schuppen mit einer Art Vorbau. Als mich das Tier sah, nahm es nicht etwa Reißaus, sondern knurrte mich an wie einen Einbrecher. Ich hätte den Hund mit einem Schuss erledigen können, aber der Schuppen erweckte plötzlich einen verwegenen Verdacht in mir, und dass diese erztreue Kreatur ihn noch bewachte, obwohl sie schmählich im Stich gelassen worden war und nun lieber vor Hunger krepierte als ihren Wachposten zu verlassen, das wollte ich nicht so grausam vergelten. Aber der Hund ließ mich nicht an den Schuppen heran, alles Zureden war umsonst, er schien entschlossen, den Heldentod zu sterben, und vielleicht hätte ich ihn doch noch erschossen, wenn nicht plötzlich vor einer andern Hütte ein Mann sichtbar geworden wäre und beide Hände hochgehoben hätte, als er mich mit dem Gewehr sah. Es stellte sich heraus, dass auch dieser Mann auf der Flucht vor den Unsrigen, durch das Gebell angelockt, hier gelandet war. Wo Hunde bellen, müssen auch noch Menschen hausen, hat er gedacht und nicht nur er allein. Es sind hier in der Gegend noch mehr von den unglücklichen Flüchtlingen untergekrochen, wie mir der Mann erzählte, und schon deswegen war es nicht ratsam, eine Schießerei anzufangen, neue Schrecken zu verbreiten und uns der Gefahr auszusetzen, einfach abgemurkst zu werden. Ich hielt es für besser, mich mit den Leuten zu verständigen und mit ihnen zu beraten, wie man sich gegenseitig helfen kann. Also ging ich mit dem Mann zu unseren Nachbarn und er machte dort den Vorschlag, ein Stück von dem Pferdekadaver zu kochen, um damit im Guten mit dem Hund einig zu werden. Das ist dann auch geglückt. Und es hat sich gelohnt! In dem Schuppen waren Schafpelze, Filzstiefel, Mützen, Lederstiefel und Schuhe – viel mehr, als vorerst nötig sind, auch Lebensmittel aller Art, selbst Petroleum und Tabak und sogar Zigaretten, Wodka und Wein haben wir gefunden und vieles davon unter die Leute aufgeteilt!. Den Rest hat unser Nachbar in Verwahrung genommen für etwa hinzukommende Bedürftige. Bei dieser Gelegenheit ist hier eine Art Dorfversammlung zustande gekommen und unser Nachbar ist Gemeinderat.“

Kehlmann erzählte diese Begebenheiten, als wäre gar nichts Besonderes dabei. Währenddessen hatte er den Topf mit dem Fleisch vom Ofen genommen und den gekochten Reis für Rambach zum Wärmen aufgestellt. „Vielleicht kannst du auch schon ein Stückchen Fleisch dazu essen?“, fragte Kehlmann. „Geschlafen hast du ganz gut, Durchfall hast du wohl auch nicht mehr, und die Temperatur scheint auch in Ordnung. Es ist nämlich auf alle Fälle gut, sich reisefertig zu machen.“

Rambach hatte schweigend zugehört und sah aus, als hätte er das alles nicht richtig verstanden, aber nun begriff er doch, um was es ging, warf die Decken von sich und stand auf, als wolle er sich auf der Stelle marschbereit machen. Zuerst taumelte er noch bedenklich, dann aber riss er sich zusammen und tappte nach dem Ofen, um seinen Reis zu holen. Nun sah er auch das flachgebackene Brot liegen, das Kehlmann von den Nachbarn mitgebracht hatte, und im andern Topf ein großes Stück knuspriges Schweinefleisch. Ein anderes Stück hatte Kehlmann bereits auf einem Teller, während Wolf auf einem Knochen herumbiss. „Ich denke, ich darf schon ein Stückchen davon essen“, sagte Rambach in einem Ton, als wollte er bekunden, dass er zumindest gegen die mit den Russen erfolgte Regelung der Lebensmittelfrage nichts einzuwenden habe.

Kehlmann verstand jede Geste Rambachs genau zu deuten, er lächelte nur verschmitzt vor sich hin, während er ihm ein Stück Fleisch auf den Reis legte und einen Löffel Soße darüber goss. Dann sagte er: „Zieh den Schafpelz an und die Filzstiefel. Sollten dir die Sachen nicht passen, tauschen wir sie um.“ Rambach tat, wie Kehlmann ihm geraten hatte. Die Sachen passten. Nun hockte er in dem Schafpelz, in Filzstiefeln und einer Pelzmütze am Ofen und aß, offensichtlich mit großem Appetit, aber er schaute so bedrückt drein, als erdulde er höllische Schmerzen.

„Schmeckt’s?“, fragte Kehlmann nach einer Weile, offensichtlich ärgerlich über die sauertöpfische Miene Rambachs.

„Schmeckt sehr gut“, sagte Rambach anerkennend und, als wolle er die immer noch vorhandene Missstimmung beseitigen, fügte er hinzu: „Mir kommt das alles vor wie ein Märchen.“

„Für Märchen wird uns wenig Zeit bleiben!“, antwortete Kehlmann in kampflustigem Ton. „Es gehen Gerüchte um, dass ungefähr eine Stunde von hier eine deutsche Skipatrouille gesehen worden ist.“

„Wo?“, fragte Rambach mit verdächtiger Lebhaftigkeit.

„In der Richtung nach dem Bahnhof. Er ist anscheinend noch von den Deutschen besetzt.“

„Der ist doch gar nicht so sehr weit von hier?“

„Vielleicht zehn, fünfzehn Kilometer.“

„Und von den Russen ist nichts zu merken?“

„Vielleicht wird bald etwas von ihnen zu merken sein. Es sind einige Leute unterwegs nach der russischen Stellung.“

Diese Mitteilung war für Rambach so überraschend, dass er den Löffel, den er zum Munde führen wollte, bedächtig in den Topf zurücksteckte. „Du willst also auf jeden Fall …?“, begann er eine neue Frage, aber Kehlmann wartete diese quälende Fragerei nicht ab. „Was ich will, habe ich dir bereits gesagt, aber es ist trotzdem noch einiges unter uns zu besprechen“, fiel er ihm ins Wort. „Wir haben hier nicht nur Lebensmittel und Schafpelze und sonstige Sachen gefunden, sondern auch Gewehre und einige schwere Maschinengewehre, und die sind bereits in Stellung gebracht. Unter den Russen sind natürlich Leute, die uns nicht trauen, und das ist absolut verständlich. Ich habe deshalb selbst den Vorschlag gemacht, uns als Kriegsgefangene zu behandeln, weil ich für dich keine Verantwortung übernehmen möchte, wenn, na, sagen wir mal, eine Situation eintreten sollte, in der es hart auf hart geht.“

„Wie meinst du das?“, fragte Rambach, obwohl er sehr gut wusste, wie dies gemeint war.

„Ich werde meine einmal gewonnene Freiheit im Notfall bis zur letzten Patrone verteidigen. Der Pfannschmied, dieser Lump, hat es bereits zu spüren bekommen, dass es mir ernst damit ist. Er hat mir allzu auffällig an den Fersen geklebt, deswegen habe ich ihm ein Ding aufgebrannt …“

„Ist er tot?“, fragte Rambach erschrocken.

„Weiß ich nicht. Hinderlich war er mir jedenfalls nicht mehr. Ich hab’ nur noch gesehen, wie sie ihn auf einen Wagen geschleppt haben.“

„Und er weiß, dass du es warst?“

„Das nehme ich an, aber vielleicht wird er darüber schweigen. ,Im Feuer russischer Maschinengewehre‘, das hört sich doch für so einen Helden besser an.“

Diese Mitteilung und die kalte Sachlichkeit, in der Kehlmann seine erneute Bereitschaft zur Gegenwehr vorbrachte, wirkten auf Rambach, als hätte er sich im Dunkeln irgendwo gestoßen und wäre durch den dadurch erlittenen Schreck plötzlich überwach geworden. Diese Wachheit ließ ihn ganz seine Schwäche durch die kaum überwundene Krankheit vergessen. Er sah sich wieder einmal in einer Falle, und aus seiner Bedrängnis heraus fragte er: „Ich glaube, du würdest auch auf mich schießen, wenn ich mich nicht so verhalte, wie du es von mir verlangst?“

„Selbstverständlich“, antwortete Kehlmann und reichte dem Hund den Teller mit Brot und Fleischresten. Dann drehte er sich eine Zigarette und begann seine Sachen zu mustern und zurechtzulegen. Rambach bedauerte, die letzte Frage gestellt zu haben, denn er empfand die dadurch heraufbeschworene Spannung unerträglich.

„Auf deine Art hast du vielleicht recht, Kamerad Kehlmann“, sagte er nach einer Weile in sehr zuvorkommendem und versöhnlichem Ton, „aber ich meine, du solltest auch verstehen, dass man über verschiedene Dinge verschiedener Meinung sein kann und es doch nichts schadet, sich darüber auszusprechen.“

Kehlmann legte Holz aufs Feuer und setzte sich dann bereitwillig neben Rambach. „Also sprich“, sagte er, „was hast du noch auf dem Herzen?“

Rambach hatte sich von seiner Überraschung einigermaßen erholt und nun wurde er ärgerlich über den Ton und die Art, wie Kehlmann ihm entgegentrat. Der Meister, der Vorgesetzte war wieder in ihm erwacht, und er fand es geradezu beleidigend, von einem jungen Gesellen so behandelt zu werden. „Nun ja, Kehlmann“, sagte er im Ton absoluter Sicherheit, „ich bin doch schließlich dreiundvierzig Jahre alt, hab’ Familie, hab’ auch sonst einiges im Leben versucht und weiß sehr gut, was unter Umständen notwendig ist. In unserm Falle müssen wir uns eben ergeben, wenn die Russen uns ausheben, daran ist nichts zu ändern. Aber als Deutscher auf Deutsche zu schießen, das ist ein widernatürlicher Fanatismus, den ich nicht mitmachen kann.“

„Wenn es also hart auf hart kommt, wirst du wieder auf die Russen schießen?“, fragte Kehlmann.

„Das habe ich nicht gesagt!“, brauste Rambach auf.

„Aber ich bin davon überzeugt“, sagte Kehlmann mit gelassener Ruhe.

„Wie kannst du denn das so einfach behaupten?“, protestierte Rambach weiter.

Kehlmann machte eine abwehrende Handbewegung. „Werde ich dir sofort beweisen“, erwiderte er schroff. „Dass Deutsche von Deutschen erschossen werden oder erschlagen oder gehängt werden, wie das in der Praxis der Nazi schon immer war und wie sie das jetzt auch an anderen Völkern praktizieren, das kommt daher, weil der Durchschnittsdeutsche von Natur aus feige und charakterlos ist.“

Rambach war aufs tiefste beleidigt. „Wen du mir Charakterlosigkeit vorwirfst, dann ist es wohl am besten, ich antworte gar nicht mehr“, sagte er. Aber er war nicht nur beleidigt, er war auch wieder unsicher geworden. „Man darf sich doch nicht ganz verblenden lassen“, fuhr er fort. „Verfolgungen und Verurteilungen Andersgesinnter hat es bei allen Regierungen gegeben und wird es immer geben, wie es auch immer Kriege geben wird. Ich hab’ mich nie viel mit Politik befasst, aber eines ist sicher: wenn wir den Krieg verlieren, ist für das deutsche Volk alles und für immer verloren, das muss man auch bedenken.“

„Du meinst also, wenn diese himmelschreiende Bestialität den Sieg und sogar noch im Weltmaßstab davonträgt, dann wäre für das deutsche Volk etwas gewonnen? Und du wärst bereit, alles, was der Menschheit dann noch bevorstehen würde, im Voraus gutzuheißen?“

„Ach, das sind doch Spitzfindigkeiten“, wehrte Rambach sich.

„Du weißt doch ganz genau, dass ich das nicht meine.“

„Davon bin ich absolut nicht überzeugt“, sagte Kehlmann. Er hatte mittlerweile seine Sachen griffbereit zurechtgelegt und machte nun Ordnung in seiner Brieftasche. Rambach, der bemerkt hatte, wie Kehlmann ein Foto von sich beiseitelegte, betrachtete die Aufnahme scheinbar sehr interessiert und bat dann, das Bild behalten zu dürfen. Dann fragte er in recht vorwurfsvollem Ton: „Warum legst du es direkt darauf an, einen Streit mit mir vom Zaun zu brechen, Kamerad Kehlmann?“

„Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Deine ganze Argumentation ist beleidigend, weil sie durch und durch verlogen ist. Du weißt sehr gut, dass Deutschland den Krieg gegen Russland, England und Amerika niemals gewinnen kann, dass er vielmehr bereits verloren ist. Dass die Nazis im besten Falle noch einige Hunderttausende ins Massengrab befördern können, ehe die Häuptlinge ihre eigene Haut in Sicherheit bringen. Aber du redest gegen deine eigene Überzeugung, weil du selber mit den Banditen durch dick und dünn gehen möchtest bis ans Ende … Nun gut, du wirst also hierbleiben und bewacht werden.“

„Und du?“, fragte Rambach erschrocken.

„Ich kann mich mit dir nicht länger aufhalten. Leb wohl!“

Rambach ergriff mechanisch die ihm gebotene Hand und antwortete tonlos: „Leb wohl, Kehlmann.“ Und als dieser schon an der Tür war und Wolf bereits draußen, sagte Rambach noch: „Und nichts für ungut – und vielen Dank für alles.“

Rambach blieb in einer trostlosen Verfassung zurück. Es war wohl noch genügend Holz zum Einheizen für die Nacht da, auch Brot, Salz und Nudeln und ein Eimer voll Wasser. Mangel würde er also vorerst nicht leiden. Kurze Zeit später kam zudem ein Russe und fragte Rambach, ob er noch etwas benötige. Rambach verneinte. Er kroch wieder unter seine Decken und der Russe schloss die Tür von außen ab.

Nach einer Weile stand Rambach wieder auf, legte von neuem Holz auf. „Nur hier nicht erfrieren!“, war seine größte Sorge. Der deutsche Spähtrupp kam ihm nicht aus dem Sinn. Wenn er eine Stunde von hier gesichtet worden war, war damit zu rechnen, dass er auch nach hier kam, um die Proviant- und Vorratslager auszuheben. Dann würde es also eine blödsinnige Schießerei geben. Vielleicht war bis dahin auch eine russische Patrouille von der Front eingetroffen oder Partisanen hatten sich eingefunden. Nicht auszudenken, wie das werden konnte. Rambach wurde klar, dass er hier eingeschlossen war, und wenn er sich bemerkbar machte, konnte das sowohl von den Deutschen als auch von den Russen falsch ausgelegt werden. Beide würden ihn vielleicht kurzerhand als Spion erschießen. Er versuchte sich einzureden, dass Kehlmann ein rechthaberischer, von Hass verblendeter Mensch sei, kam aber dann zu dem merkwürdigen Resultat, dass der sehr wohl wusste, was er wollte, und dass nur er wieder einmal in einer Falle saß. Ich hätte ihm einfach zustimmen sollen, dann wäre er sicher hiergeblieben … aber konnte ich denn ahnen, dass er mich hier allein hockenlässt?'

Rambach fand keine Ruhe. Er stand wieder auf, verzehrte noch einen halben Laib Brot und trank Tee dazu. Er wollte rasch zu Kräften kommen und stellte befriedigt fest, dass sein Magen in Ordnung war. Unausgesetzt wartete er auf das Knattern der Gewehre, und als es dann tatsächlich einsetzte, war er doch nicht darauf vorbereitet. Die Deutschen stießen mit einer von einem Skitrupp gesicherten gepanzerten Feldbahnlokomotive vor, und es wäre ihnen vielleicht gelungen, an das Proviantlager heranzukommen, wenn die Geleise nicht inzwischen an verschiedenen Stellen gesprengt und viele Meter Schienen fortgeschafft gewesen wären. Die Lokomotive saß fest und der Schneeschuhtrupp geriet auf einer Lichtung unweit von der Hütte, in der Rambach sich befand, in gutgezieltes MG-Feuer. Die Deutschen zogen sich sofort aus der Lichtung in den Wald zurück. Rambach konnte alles durchs Fenster beobachten, sah auch, wie zwei Mann taumelten und in den Schnee fielen. Dann hörte er, wie ein zweites Maschinengewehr losbellte, das auf die Feldbahnlokomotive eingerichtet war, und hinter sich hörte er deutlich Kommandostimmen in russischer Sprache. Aber auch die Stimme Kehlmanns hörte er: „Bring dich in Sicherheit, Rambach!“, brüllte dieser hinter der Hütte. „Mach schnell, ich erwarte dich!“

Rambach gab keine Antwort. Er hatte die Filzstiefel und den Schafpelz angezogen, die Pelzmütze auf dem Kopf und stand wie erstarrt in der Hütte. Verirrte Gewehrkugeln schlugen von vorn und von hinten in die Bude, ein Querschläger aus der Richtung der Feldbahnlokomotive zertrümmerte das Fenster. Da die Deutschen das Feuer immer noch erwiderten, fürchtete Rambach, sie könnten rascher Verstärkung erhalten als die Russen, vorrücken, ihn finden und zur Verantwortung ziehen, weil er sich nicht rechtzeitig bemerkbar gemacht hätte. „Und darauf steht Todesstrafe!“, entfuhr es ihm. Er ergriff das am Ofen liegende Beil, schlug den Riegel an der Tür entzwei, stürzte ins Freie, duckte sich hinter die hochaufgetürmte Schneewand und warf einen Blick um die Ecke, nach der Richtung, von wo jetzt wieder die Stimme Kehlmanns und das Bellen des Hundes zu hören war. Und nun sah er auch, wie Kehlmann ihn erkannte und ihm hastig winkte.

Rambach zog sich rasch zurück, versuchte den Wald und von da die Feldbahnlokomotive zu erreichen, aber er musste über ungedecktes Gelände und tiefen Schnee. Dicht bei der Feldbahnlokomotive traf ihn eine Kugel in den Oberarm. Er hatte bemerkt, dass es ein einzeln abgefeuerter Schuss war und wusste sofort, dass diese Kugel aus dem Gewehr Kehlmanns kam. „Ach, du Hund, du verfluchter!“, stöhnte er, während er zu Tode erschöpft auf die Plattform der Feldbahnlokomotive kletterte.

Erst im Feldlazarett erfuhr Rambach, dass jenes Stoßtruppunternehmen nur den Zweck hatte, die russischen Stellungen zu erkunden. Die Division bemühte sich, wenn auch mit großen Verlusten, aus der Zange herauszukommen, in die sie durch die Flankenangriffe der Russen geraten war, und es hatte nicht nur an diesem Frontabschnitt schwere Verluste gegeben. Die Ostfront war plötzlich ein eisiger gähnender Abgrund geworden. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit der faschistischen Armee war zerfetzt. Hunderttausende deutscher Soldaten waren durch die überraschende Gegenoffensive der Russen darüber belehrt, dass an der Ostfront nur der Tod auf sie wartete.

Auch Rambach war davon überzeugt, aber ihn beschäftigte ausschließlich die Frage nach dem Zeitpunkt der Niederlage der deutschen Armee. Bald aber stellte sich heraus, dass der Krieg länger dauern würde als die Heilung seines zerschossenen Armes, obwohl auch diese drei Monate in Anspruch nahm. Anfangs schien es, als würde der Arm steif bleiben, denn der Knochen war getroffen worden und Frostschäden hinzugekommen. Rambach befürchtete schon eine völlige Lähmung. Und wenn er es auch als ein Glück im Unglück empfunden hätte, mit dem steifen Arm auf seinem Meisterposten das Ende des Krieges abwarten zu können, so freute er sich doch sehr, als er nach einiger Zeit die Finger und das Handgelenk wieder bewegen konnte. Durch hartnäckige Massagen wurde endlich sogar erreicht, dass er wieder schreiben konnte, mühsam zwar, aber die Hand parierte doch und sie belebte sich auch äußerlich wieder zusehends. Diese Besserung verfolgte Rambach schon mit gemischten Gefühlen, denn er ahnte voraus, dass es von Schreibübungen zu Schießübungen nicht mehr weit sein würde, und es war auch tatsächlich so. Rambach schoss anfangs wohl noch sehr schlecht, aber er schoss nicht absichtlich daneben. Die Schießübungen fanden noch im Feldlazarett statt und Rambach maß ihnen eigentlich nur medizinische Bedeutung bei. Auch klammerte er sich an die verwegene Hoffnung, dass er, wenn auch nicht sofort entlassen, so doch wenigstens vorerst seiner Heimatgarnison überwiesen und dort als felddienstuntauglich befunden würde. „Auf jeden Fall muss ich heraus aus diesem Schlamassel!“, so sagte er sich und stellte mit Befriedigung fest, dass es doch besser sei, auf diese Art aus der Falle herauszukommen als zusammen mit diesem Kehlmann.

Aber auch diese Befriedigung verflüchtigte sich rasch. Vier Monate später war Rambach wieder „felddienstfähig“ und es nutzte ihm gar nichts, dass sein Arm teilweise noch immer steif war. Der Arzt bestritt das nicht einmal. „Ein bisschen behindert und ungeübt“, sagte er, „aber das gibt sich bald durch Übung und Bewegung, und im Übrigen sind Sie doch vollkommen in Ordnung.“

Jawohl, der Soldat Rambach war im Übrigen in Ordnung. Zweimal hatte ihn Kehlmann aus der Eishölle gerettet, das letzte Mal paradoxerweise durch den Schuss in den Arm, durch den Rambach rasch ins Hinterland gekommen war, während er sonst vielleicht doch noch irgendwo in Schnee und Eis zugrunde gegangen wäre. Jawohl, Rambach war mit sich und den nun einmal gegebenen Umständen irgendwie in Ordnung. Er wusste zwar, dass die Sache, für die er kämpfte, aussichtslos und verwerflich war, aber er wollte seine Pflicht, wie er sie auffasste, bis zu Ende erfüllen, und er hoffte dabei im Stillen auf den baldigen militärischen Zusammenbruch. Er wurde noch wortkarger und schloss sich noch mehr gegen alle ab, die nicht schweigen konnten.

Aber der Soldat Rambach hatte nicht bedacht, dass die Ordnung, der er sich widerspruchslos unterwarf, bereits aus den Fugen geraten war und auch für ihn gefährliche Abgründe aufriss. Da war seine Tochter, bei Kriegsausbruch ein Mädchen von sechzehn Jahren. Nun war sie zwanzig, mit einem Matrosen verheiratet und bereits Mutter. Und der Matrose war, wie Rambach durch einen Urlauber von seiner Frau erfuhr, nach Schweden desertiert und dort interniert worden. „Ich halte ihn trotzdem für einen sehr anständigen Menschen“, hatte Frau Rambach geschrieben. Und weiter schrieb sie: „Das Durchhalten ist leichter, wenn man weiß, dass ein Mensch lebt und nach dem Krieg wiederkommt.“ Sie wusste allerdings nicht, dass nicht nur jeder einzelne Soldat an der Front von der Geheimen Staatspolizei sorgfältig beobachtet wurde, sondern auch die Angehörigen in der Heimat. Mit der Überwachung der Familie Rambach war Pfannschmied beauftragt. Denn Kehlmann hatte ihn nicht tödlich getroffen. Er lebte einbeinig weiter und arbeitete wieder bei Blohm & Voß. Und in dem Bericht dieses Pfannschmied erschien nun auch die Entfernung Rambachs während des Rückzuges im vergangenen Winter in einem andern Licht. Pfannschmied versprach sich von diesem Bericht über Rambach einen raschen und nicht geringen Erfolg und gab sich große Mühe, Rambach zu Fall zu bringen. Grund genug für den Überwachungsbeamten der Geheimen Staatspolizei, diesen Rambach recht eingehend zu prüfen. Die Lage an den Fronten gab allen Anlass zur strengen Überwachung „verdächtiger Elemente“. Tausende und aber Tausende deutsche Soldaten, die den russischen Bomben und Granaten entronnen waren, blieben erfroren liegen und wurden zugeweht, während in Afrika die Soldaten der Armee Rommel auf der Flucht im Wüstensand verdursteten und die amerikanischen und englischen Armeen vor Tunis aufmarschierten. Angesichts einer solchen Lage war der Offizier vom „Sonderdienst“, der die Personalakten des Bataillons bearbeitete, in das Rambach eingereiht war, nicht im Zweifel über die Gefahr, die auch ihn bedrohte. Die Stimmung in der Truppe war schlecht, der Mann, der da vor den Personalakten Rambachs saß, musste sich darüber im Klaren sein, dass im Falle einer Meuterei oder gar eines Zusammenbruchs der Front das eigene Leben auf dem Spiel stand. Er machte unter seinen Bericht an das Feldgericht ein Doppelkreuz mit roter Tinte und damit war das Urteil gesprochen.

Rambach ahnte nicht, was ihm bevorstand. Er wurde einmal verhört, aber dieses Verhör hatte, wie es ihm schien, nur informatorischen Charakter. Die darauf folgende Leibesvisitation und Beschlagnahme des Fotos von Kehlmann erschreckten ihn wohl, aber da er nicht wusste, dass Pfannschmied seine Hände im Spiel hatte, machte er sich auch hierüber noch keine ernsteren Gedanken.

Als Rambach daher eines Tages den Befehl erhielt, feldmarschmäßig im Bataillonsstab zu erscheinen, war er wohl darauf gefasst, dass er sich vielleicht an höherer Stelle verantworten müsse, aber er vertraute auf sein reines Gewissen und glaubte, er werde sich schon verteidigen können. Misstrauisch wurde er erst, als ihm befohlen wurde, ohne Gewehr zu gehen. Aber dann fasste er doch wieder Mut. Es konnte ja sein, dass irgendwo Handwerker benötigt wurden; vielleicht sollte er auch zu einem andern Truppenteil versetzt werden, vielleicht zu den Pionieren. Allerdings nahmen Leute, die abkommandiert wurden, stets ihr Gewehr mit, denn ein Soldat ohne Gewehr ist nun einmal kein Soldat. Aber es war ein Weg von zwei Stunden, den Rambach zu gehen hatte, und es war ein beschwerlicher Weg durch den verschneiten Wald. Da sagte er sich, dass der Befehl doch sehr vernünftig sei und man froh sein konnte, wenn man die Knarre nicht überall mitschleppen musste. Und als es ihm dennoch nicht gelang, das in ihm wach gewordene unbehagliche Gefühl zu bekämpfen, sagte er sich: ;Und wenn sie mich vor das Feldgericht stellen sollten, werde ich mich gründlich von jedem Verdacht reinigen, denn schließlich kann ich doch beweisen, dass ich jederzeit meine Pflicht getan habe.‘

Er hatte nur fünfzehn Minuten Zeit, seine Sachen zu packen und konnte sich nicht von seiner Kompanie verabschieden, weil diese im Schützengraben oder beim Arbeitsdienst war. Aber einer, der zufällig in den Unterstand kam, als Rambach sich zum Fortgehen fertigmachte, warnte ihn: „Nimm dich in Acht vor den Schwarzen.“ Rambach war nun doch erschrocken. Da sagte der Soldat leise: „Mit den Partisanen kannst du dich leicht verständigen. Wenn du mit denen Bekanntschaft machen kannst, bist du gerettet. Die Richtung weißt du ja. Probier’s!“

Dieser Soldat hatte ausgesprochen, was Rambach jetzt mehr und mehr befürchtete. Ach, es war eine schauerliche, lähmende Furcht, die diese „Schwarzen“ verbreiteten. Die „Schwarzen“, das war nämlich eine SS-Formation zur besonderen Verwendung, die sich schon einen traurigen Ruhm erworben hatte.

Auch Rambach hatte bereits von ihnen vernommen, aber er hatte nur widerwillig hingehört, wenn von ihnen die Rede war. Er hatte auf das Ende des Krieges gewartet und bis zum Ende jeder Gefahr ausweichen wollen. Er hoffte, ihr auch jetzt noch ausweichen zu können. Sich zu den Russen durchzuschlagen, war wohl nicht unmöglich; wenn er die Nacht abwartete, konnte er jenseits des Flussufers verschwinden. Aber er hatte Angst, dass er bemerkt werden könnte, und wollte, zur Rede gestellt, ein reines Gewissen haben. „Wenn sie mich abknallen wollten“, sagte er sich, „dann müssten sie ja eigentlich die ganze Armee erschießen …“

Eine halbe Stunde später wurde der Soldat Rambach von mehreren Schüssen zu gleicher Zeit getroffen. Er fiel mit erhobenen Händen sterbend in den Schnee. Einige Wochen später erhielt seine Frau von dem Regiment die offizielle Mitteilung über den Tod ihres Mannes. Darin stand: „Für Führer und Reich gefallen“ …

Der Landpostbote Zwinkerer und andere Erzählungen von Adam Scharrer: TextAuszug