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Ins Herz geblickt. Skizzen von Karl-Heinz Schleinitz
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
06.07.2021
ISBN:
978-3-96521-485-9 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 238 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Politik, Belletristik/Liebesroman/Aktuelle Zeitgeschichte, Belletristik/Moderne Frauen
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Liebe und Beziehungen
DDR, SED, Bergbau, Kohlegrube, Arbeitsmoral, Vorbild, LPG, Stalinstadt, Eisenhüttenstadt, Sozialismus, Einzelbauern, Konfliktkommission
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Doch der Wunsch hat eine Bremse – das hässliche Datum auf dem Krankenschein, das befiehlt: Morgen hast du wieder Botin im Kabelwerk Köpenick zu sein!

Die unrechtmäßigen Wünsche sind stärker. Unser Mädchen verschreibt sich selbst noch einige Tage Kranksein. Sie ändert eigenmächtig das Datum des Arbeitsantritts. Das ist nach dem Strafgesetzbuch Urkundenfälschung. Damit schliddert sie in einen Prozess mit unliebsamen Folgen, der die nüchterne Überschrift trägt: Aussprache mit der Konfliktkommission und dem Kollektiv. Früher wäre Inge für dieses Vergehen – wie heute noch in Staaten mit kapitalistischer Gesellschaftsordnung – ohne Rücksicht auf die Schwere des Falles vor ein Gericht gekommen.

Die Aussprache wird in einem größeren Büroraum des Werkes stattfinden. Dieser Raum ist würdig hergerichtet. Die Büste unseres Präsidenten. Eine Fahne. Quer vor den Stuhlreihen, auf denen die Kollegen unseres Mädchens auf den Beginn der Aussprache warten, stehen zwei große Tische. An dem einen wird die Leitung der Versammlung sitzen. Am anderen, Auge in Auge mit dem Kollektiv, dem Vater, den Vertretern der Freien Deutschen Jugend, der Arbeitsdirektion und den Gästen, wartet Inge. Sie ist fünfzehn Jahre alt, hübsch, hat gerötete Wangen, lebhafte Augen; ein Mädchen, das man vom Äußeren her liebgewinnen könnte.

Die Versammlungsleitung betritt den Raum. Inge blickt verlegen weg. Am freien Tisch nehmen Platz: der Vorsitzende der Konfliktkommission der Abteilung – ein Ingenieur; der Vorsitzende der AGL; die Leiterin der Planungsabteilung, in der Inge arbeitet; der FDJ-Sekretär des Betriebes und schließlich als Berater der Staatsanwalt.

Von den Fabrikhallen her stoßen Arbeitsgeräusche in den Raum. Die Gesichter der Versammelten sind ernst. Sie sehen auf ihre junge Kollegin, die nun, da der Vorsitzende über ihre guten, aber auch über ihre schlechten Eigenschaften spricht, nicht weiß, wohin sie blicken soll.

Der Vorsitzende bittet Inge, die Beweggründe ihrer Handlung zu erklären. Die Antworten auf seine Fragen kommen stockend und unvollständig.

„Weißt du, was du damit gemacht hast?“, fragt der Staatsanwalt. Inge nickt. Leise: „Urkundenfälschung.“

„Und Betrug“, ergänzt der Staatsanwalt. Und dann eindringlich: „Das ist doch nicht nur so, dass du dir ein paar Tage zusätzlichen Urlaub unrechtmäßig verschafft hast. Vor allem blieb dein Arbeitsplatz unbesetzt. Andere Kollegen, dieselben, die nun hier sitzen, mussten deine Arbeit mit erledigen. Und weiter: Aus den Mitteln der Sozialversicherung hast du Gelder verlangt, die für wirklich Kranke bestimmt waren. War dein Verhalten nicht unmoralisch?“

Inges Gesicht wird hochrot. Sie senkt den Kopf. Aber sie schweigt.

Einige der Kollegen machen sich Notizen. Andere sehen wie von ungefähr zum Fenster hinaus. Vielleicht überlegt einer: Eigentlich war das mit meiner letzten Frühjahrs-Beinverstauchung auch nicht in Ordnung. Der Garten hätte noch warten können. Und wenn ich auch nicht gerade Urkundenfälschung begangen habe – auch mein unberechtigtes Krankfeiern war unmoralisch, verflixt noch mal! Und nun soll ich meine Meinung über Inge sagen. In welche Lage komme ich. Ich kann doch nicht mehr in den Spiegel sehen, wenn ich mich selbst nicht bessere! Andere erziehen ist doch verdammt schwer, weil man sich selbst miterziehen muss …

In den folgenden zwei Stunden wird noch weit mehr sichtbar, wie sehr der Mensch das Produkt seiner Umgebung ist, wie Gutes und Schlechtes auf ihn einwirken und ihn formen. So ist die Aussprache nicht nur erzieherisch für Inge, sondern auch für diejenigen, die Inge am nächsten stehen. Sie sind zur Rechenschaft über ihr eigenes Verhalten gezwungen.

Da spricht der Vater, ein in seinem Betrieb angesehener Genosse: „Entschuldigen Sie, wenn alles so stockend kommt. Es regt mich auf. Meine erste Frau – zweieinhalb Jahre krank. Brustkrebs. Sie starb 1956. Nie hatte sie über meine Tochter geklagt. Meine zweite Frau heiratete ich 1958. Da erst merkte ich, wie verzogen die Tochter war. Meine jetzige Frau ist berufstätig. Es geht nicht anders, die Tochter muss ihre Sachen selbst in Ordnung halten und zu Hause zur Hand gehen. Nun fühlt sie sich benachteiligt. Überall fällt sie auf. Aber sie soll ein ordentlicher Mensch werden. Es ist schwer für mich, aber ich muss aus Verantwortungsbewusstsein heraus fordern: Schickt sie in einen Jugendwerkhof!“

Unruhe unter den Versammelten. Gespräche in den Reihen. Wie kann ein Vater solch eine Forderung stellen? Spricht das wirklich für Verantwortungsbewusstsein? Oder ist es nicht der leichteste Weg, von der Verantwortung entbunden zu werden, nachdem der Genosse, der in seinem Betrieb die Schicht ordentlich leitet und die Kollegen im sozialistischen Sinne erzieht, in der Familie versagt hat …

„Warum gleich Jugendwerkhof!“, protestiert der Vorsitzende.

„Ich bin dafür, dass sie im Betrieb bleibt.“

Ein anderer Kollege springt auf.

„Wenn meine Tochter nicht spuren würde und nicht zur rechten Zeit nach Hause käme, würde ich sie unten mit einem Knüppel erwarten und verjacken!“, trompetet der sonderbare Apostel.

Die Erregung der Versammelten wächst. „Ich schlage meine Tochter nicht!“, ruft der Vater. „Außerdem hat sie bis einundzwanzig Uhr zu Haus zu sein. Das hält sie auch ein. Sonst gibt's Hausarrest.“

„Gehst du gern tanzen, Inge?“, fragt jemand.

Inge blickt auf. Sie lächelt sogar. „Sehr gern. Aber der Tanz beginnt erst um zwanzig Uhr. Eine Stunde lohnt nicht.“ „Eine Stunde ist besser als gar nichts! Immerhin bist du noch jugendlich. Aber eine Frage an den Vater: Sind Sie schon mal mit Ihrer Tochter zum Tanz gegangen?“ Der Vater schüttelt den Kopf.

„Wissen Sie, mit wem Ihre Tochter sonst Umgang hat?“

„Ich weiß einiges, aber sicher nicht alles.“ „Was machst du, wenn du bummelst, Inge?“ „Ich stehe am Bahnhof. Bei den Jungs.“ Ein Kollege meldet sich. „Das stimmt. Ich sehe sie immer am Bahnhof Friedrichshagen stehen. Komisch: Da ist sie sehr lustig. Warum ist sie das nicht im Betrieb? Ich glaube, die FDJ kümmert sich zu wenig um sie.“

Der FDJ-Sekretär steht auf. Er analysiert haargenau die Lage an den Treffpunkten der unternehmungslustigen, aber gelangweilten Jugend seines Stadtteils. Er muss eingestehen: „Wir haben versäumt, uns um Inge zu kümmern.“ Es wurde auch versäumt, wie sich nun herausstellt, nachdrücklich auf die Bezahlung der Beiträge zu dringen. Sechs Monate ist Inge im Rückstand.

„Weißt du, wer von den Jugendlichen am Bahnhof Mitglied unseres Verbandes ist?“, fragt der FDJ-Sekretär. Inge sagt: „Alle“, und sie nennt die Namen. „Ich werde mit den FDJ-Leitungen in den Betrieben sprechen“, versichert der Sekretär. Und er wird auch dafür sorgen, dass Inge mehr an den Veranstaltungen der Jugend im Betrieb teilnimmt.

Dann entbrennt eine Debatte darüber, ob Inge in der Abteilung bleiben oder eine andere Arbeit zugewiesen bekommen soll. Schließlich wird sie selbst über ihre Meinung gefragt, sicherlich etwas spät: Denn es kommt doch darauf an, dass die notwendigen Erziehungsmaßnahmen mit der persönlichen Perspektive abgestimmt werden. Inge möchte Stenotypistin werden. Also ist es richtig, wenn sie in der Abteilung bleibt. So beschließen die Kollegen auch. Und sie machen den Vorschlag, dass zwei Paten, die Inge selbst wählen soll, sich in Zukunft um das Mädel kümmern.

„Aber ich möchte nicht mehr für die Kollegen der Nachbarabteilung privat einholen müssen“, bittet Inge.

Einige Kollegen sind verwundert, ja empört. Was denkt sich dieses junge Ding eigentlich!

Aber noch verwunderter ist der Staatsanwalt. „Ist diese Tätigkeit im Arbeitsvertrag vorgesehen oder nicht?“, fragt er. „Und selbst wenn das drinstehen sollte: Können wir es vor unserem Gewissen verantworten, einen jungen Menschen, dessen Erziehung uns anvertraut ist, der lernen soll, stattdessen nach Brötchen zu schicken?“

Ins Herz geblickt. Skizzen von Karl-Heinz Schleinitz: TextAuszug