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Morgen am Lickweg von Karl-Heinz Schleinitz
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
13.07.2021
ISBN:
978-3-96521-487-3 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 478 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Politik, Belletristik/Familienleben, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Liebesroman/Geschichte/20. Jahrhundert
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Familienleben, Generationenromane, Familiensagas, Liebesromane, 1960 bis 1969 n. Chr., Nordostdeutschland
DDR, LPG, Bauern, Agitation, SED, Liebe, Familienleben, Republikflucht
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Hannes ließ dem Vater den Vortritt, und Schramm öffnete die Tür. Er blieb wie versteinert stehen. Träume ich? Er bemerkte nicht das Komische in der Haltung des Mädchens mit der senkrecht gezückten Kelle und dem überschwappenden Wasserkessel. Er sah nur das ihm unirdisch scheinende Schöne: ein Menschenkind mit fragenden dunklen Samtaugen, Lippen vom Hauch sattroter Mohnblüten, die zartbraune Haut unter der schwarzen Wildnis des Haares blutübergossen, ein Mädchen noch und schon eine Frau. Am Halse pulste ihr Herz.

Ist denn das möglich? In Schramm stürzten die Jahre ein, er rief: „Anna!“ – und wusste nicht, dass er es rief.

Lore zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich bin die Tochter. Ich hole die Mutter.“ Und da sie bemerkte, dass der Fremde noch immer unbeweglich in der Tür stand und sie anstarrte, fügte sie unsicher hinzu: „Bitte, kommen Sie doch herein.“ Schramm sah die ihm traumhaft dünkende Erscheinung aus einer anderen Tür davonhuschen, er fand in die Wirklichkeit zurück und begriff, wo er sich befand. Doch schon der nächste Atemzug führte ihn in rasendem Flug in seine Jugend mit Anna. Ein Chaos von Bildern stürmte auf ihn ein, scheinbar ohne Sinn und Zusammenhang und doch sich machtvoll zu einer Harmonie zusammenfindend wie die Linien im brausenden Spiel einer Orgel. Er sah sich mit Anna in der Bibliothek des Barons, dann vor der Mamsell, dann wieder am Lickweg in hellen Nächten mit betäubenden Gerüchen von Jasmin und Korn. Anna!

Im Herrenzimmer sagte Lore aufgeregt zu ihrer Mutter: „Dich will jemand sprechen. Er ist so komisch. Wie er mich angestarrt hat. Ein Verrückter!“

„Was du nur immer siehst“, fertigte die Mutter sie ab und ging zur Küche. Die Sorgen der letzten Wochen, das in Jahren gewachsene Gefühl, wie tot neben dem Mann herzuleben, die bittere Einsamkeit hatten ihre Spuren gezeichnet. Sie war grauer geworden, gebückt, verhärmt.

So sah Schramm seine Anna wieder, und er, der eben noch in taumelnden Bildern die große Liebe seiner Jugend mit dem lebensdurstigen, blutvollen Mädchen nacherlebte, wischte sich mit der Hand über die Augen. Was ist denn nun wahr? Das kann doch nicht sein! Da hörte er eine spröde Stimme sprechen, und darin war nichts mehr von der Glut seiner Anna: „Sie haben nach mir verlangt?“

Schramm schnürte es die Kehle zu. Was ist aus dir geworden, Anna! Er wollte davonlaufen, er meinte, mit dieser Ernüchterung nicht fertig zu werden. Aber die Beine waren ihm wie Holz.

Als Anna den Mann sah, kam ein unheimlicher Gedanke in ihr auf. Sie zwang ihn nieder. So etwas gibt es doch gar nicht! Aber der Gedanke war übermächtig, ihr war, als gösse jemand in ihre Adern abwechselnd kochendes und eisiges Wasser. Sie zwang sich nochmals zu fragen, und ihre Stimme bebte: „Sie wollten mich sprechen?“

„Anna“, flüsterte Schramm.

Da wusste Anna, alles ist wahr. Sie tastete nach einem Stuhl und ließ sich kraftlos fallen. Ich habe es ja gewusst, einmal wird er vor mir stehen …

Lore sah verständnislos auf den Mann und dann zur Mutter. Dann begann sie zu begreifen. Da hörte sie den jungen Fremden mit unsicherer Stimme, die forsch sein sollte und doch ungeschickt klang, fragen: „Könnten Sie mir nicht das Haus zeigen? Ich interessiere mich für alte Häuser.“

Lore, die in ihrer Sorge um die Mutter den sympathischen Jungen vergessen hatte, antwortete nach einem kurzen Blick auf die Mutter leise: „Sehr gern.“

Sie ließen die Alten allein, und doch blieben bei allem Erregenden, das in zwei jungen Menschen im gegenseitigen ersten Entdecken aufkommt, ihre Gedanken bei Otto und Anna. „Otto“ und „Anna“ hörten sie auch hinter ihren eigenen Namen, als sie sich formal bekannt machten. Sie führten Gespräche, die wichtig sein sollten, und wussten sie nichtig am Rande des unfassbaren Ereignisses, dass sich die Bahnen zweier Menschen nach drei Jahrzehnten wieder gefunden hatten.

Morgen am Lickweg von Karl-Heinz Schleinitz: TextAuszug