Sie befanden sich jetzt unter den Gettoruinen, das Wasser stand hier nicht so hoch und floss weniger reißend dahin; trotzdem war es eine schwierige Strecke. Aus der Zeit der Gettokämpfe bestanden verschiedene, von tiefem Schlamm umgebene Geröllsperren, die meist umgangen werden mussten. Sie krochen im Zickzack durch ein Labyrinth großer und kleiner Röhren, und gerade als sie wieder unterhalb eines Einstiegdeckels verharrt, sich aufgerichtet und nach der Zeit gesehen hatten ("viertel fünf", hatte Werner gesagt), geschah, was Jürgen am meisten befürchtet: hinter einer Windung erloschen die tanzenden Lichter der Vordermänner. Die beiden stürzten hastig vorwärts, noch waren Geräusche zu hören, doch nach ungefähr fünfzig Metern stießen sie, ohne den Anschluss wiedererlangt zu haben, auf eine Sperre: Die SS hatte Trümmerbrocken und Ziegelsteine den Schacht hinabgeworfen, hinter denen sich die Flut staute; im trüben Schein der Taschenlampe erblickten sie einen Schuttberg, der fast die obere Wölbung des Rohres erreichte; darüber quoll schwärzlicher Morast.
"Da passt nur eine Katze durch", flüsterte Werner. "Los, umkehren! Sie müssen vorher abgebogen sein!"
"Ich will rufen", antwortete Jürgen.
Er brüllte. Es hallte hohl durch die Kanäle, doch keine Antwort kam. Gleichmütig rieselte und schmatzte das Wasser.
Nun riefen sie beide. Ihr Schrei rollte den Tunnel entlang, bog in Seitenstollen, kehrte als schwaches, hundertfältiges Echo gebrochen zurück. Irgendwo in der Ferne ein leises Raunen und Plätschern wie von Schritten, ein Wispern und Glucksen... Gespenstisches Stimmengewirr. Sonst nichts.
"Schnell zurück", keuchte Werner.
Das erste Seitenrohr, auf das sie stießen, zweigte nach links ab, führte also nach Norden und schied daher aus; sie hatten bemerkt, dass Antek, wohl um den Weg abzukürzen, den Sperren stets in entgegengesetzter Richtung auswich.
An dem nächsten, nur etwa siebzig Zentimeter hohen Rohr horchten sie. Es drang kein Laut heraus.
"Weiter", drängte Werner, "noch weiter zurück!"
Sie erreichten die Stelle unterhalb des Einstiegsschachts, an der sie kurz zuvor gerastet und nach der Uhr gesehen hatten. "Hier waren wir schon einmal", stellte Werner enttäuscht fest.
"Natürlich schon einmal", zischte Jürgen gereizt.
"Also doch das enge Rohr, los, umkehren, zurück!"
"Umkehren, zurück umkehren, zurück", stieß Jürgen heraus, "wir haben sie verloren, begreifst du nicht?"
"Wir werden sie wieder finden", sagte Werner ruhig, "sie sind durch das enge Abzugsrohr da vorn..."
"Und dann? Und dann? Kennst du dich etwa aus? Zwanzig Minuten Vorsprung haben sie schon! Was willst du denn da machen?"
Um ihre Füße gurgelte das Wasser. Ein feines Wispern hing an den schleimigen, tropfenden Wänden, das nichts war als der Widerhall ihrer Stimmen. Auch in Werners Herz schlich sich das Grauen. "Was ich tun will? Alles versuchen! Wir müssen durch."
"Ich will nicht in das enge Rohr", schrie Jürgen, "ich kann nicht mehr! Ich kann nicht auf Händen und Knien rutschen, es zerreißt mir ja den Arm! Ich halt' das nicht mehr aus! Ich kann nicht!"
"Beiß die Zähne zusammen", bat Werner. "Bist du nicht selber schuld?"
"Nein, du! Du!" Er war wie von Sinnen, ihn würgte die Verzweiflung, alles fiel von ihm ab. "Du wolltest, dass ich wieder schieße! wie viel Deutsche haben wir umgebracht? Jetzt sind wir selber dran mit verrecken! Du hast sogar Hartmann getötet!"
"Und du hast ihn nicht rechtzeitig getötet", erwiderte Werner hart. "Warum hast du nicht geschossen, als er die Handgranate warf? Warum? Warum? Sag mir, warum!"