Eine der schönsten Naturwaldzellen liegt in Mecklenburg, nicht weit entfernt von der kleinen Stadt Feldberg. Dort, wo die Weichselkaltzeit klare Seen in einer kuppigen Moränenlandschaft zurückgelassen hat, stehen die größten und ältesten Rotbuchen unseres Landes im Naturschutzgebiet »Heilige Hallen«. Nun ist ja Mecklenburg wahrlich nicht arm an Buchenwäldern, die im Herbst in kupferner Pracht leuchten. Die Landschaften zwischen Schwerin und der Friedländer Wiese, bis hinauf zur Kreideküste der Insel Rügen, sind ohne die silbernen Buchenstämme gar nicht denkbar. Doch nirgends in all den vielen Buchenwäldern sind solche Baumriesen herangewachsen wie in diesem Schutzgebiet.
Niemand weiß es ganz genau, aber die Forstleute schätzen, dass in den »Heiligen Hallen« seit etwa einhundert Jahren keine forstlichen Eingriffe mehr vorgenommen wurden. Die ältesten Buchen des Schutzgebietes mögen ihre Keimblätter wohl vor dreihundert Jahren aus braunen Bucheckern geschoben haben. Seither sind sie mit anderen Buchen im Wettstreit dem Licht entgegengewachsen. Manche Kronen haben Höhen von mehr als fünfzig Metern erreicht!
Mächtig und eindrucksvoll muss dieser Buchenwald bereits vor einhundert Jahren gewesen sein. Damals gab es den Namen »Heilige Hallen« schon. Die aufstrebenden Säulen der silbergrauen Stämme unter dem gewölbten Kronendach wurden mit einem Kirchenschiff verglichen. Jedoch liegt die Besonderheit dieses Buchenwaldes nicht allein in der Höhe und der Mächtigkeit seiner ältesten Bäume. Wichtiger ist die gesamte Entwicklung des Buchenbestandes. Der Eindruck einer großen Halle mit mächtigen Säulen ist nämlich täuschend! Eine Vielzahl von Bäumen ist sowohl in der Höhe wie auch im Stammdurchmesser sehr unterschiedlich. Das haben genaue Untersuchungen ergeben. Von der daumengroßen Jungbuche bis zur Fünfzigmeterriesin sind alle Größen vorhanden! Zwei Höhenstufen sind allerdings besonders auffällig. Das sind Buchen zwischen 10 und 14 Metern und Bäume, die 38 bis 44 Meter hoch sind. Sodann gibt es sehr starke, bereits am Waldboden liegende Buchen. Sie haben sich überlebt, sind morsch und altersschwach gestürzt, und im Kronendach entstand eine große Lücke.
Wo im lichtarmen Hochwald alte Bäume stürzen, kann wieder Licht zum Boden dringen. Dort, wo in den Mastjahren dann dreikantige Bucheckern massenhaft aus den stachligen Fruchthüllen herabfallen, wo die Wildschweine nach ihnen im Falllaub wühlen und so ein Saatbett bereiten, keimen im Frühjahr Hunderte von Jungbuchen über der Braunerde. Allerdings können nur wenige Buchenkeimlinge zu Bäumen heranwachsen, denn auch die Bodenpflanzen breiten sich überall dort wieder aus, wo sich der Wald durch Windwurf und Altersschwäche lichtet und in den natürlichen Zerfall übergeht. Dann machen Brennnesseln und Himbeeren den Jungbuchen das Leben schwer. Dennoch setzen sich genügend Bäume durch und schließen die Lücken im Walddach. So befindet sich der natürliche Buchenwald im steten und langsamen Wechsel von Werden und Vergehen.
Ehe die Buchenkronen ihr geschlossenes Schattendach entfalten, blühen am Waldboden unter ihnen Busch-Windröschen, Goldnessel und Sauerklee. Das Einblütige Perlgras schiebt seine Blattspitzen und treibt dann seine Blüten. Keine andere Bodenpflanze ist unter den Buchen so häufig wie diese Grasart. Die Botaniker nennen jene Pflanzen, die das Bild einer Lebensgemeinschaft deutlich prägen, Leitpflanzen. Die »Heiligen Hallen« sind ein typischer Perlgras-Buchenwald. Auch deshalb steht das Gebiet unter Schutz, denn nirgends sonst ist diese Pflanzengesellschaft in einer solch reinen Ausprägung zu finden. Lediglich auf den Kuppen der Endmoräne gedeihen ein paar Hainbuchen im Rotbuchenbestand, und die wenigen Trauben-Eichen am Südhang können das Bild des reinen Perlgras-Buchenwaldes kaum beeinflussen.
Man könnte meinen, ein Wald, der sich nur aus einer einzigen Baumart, der Rotbuche, zusammensetzt, müsse langweilig sein und eine artenarme Tierwelt haben. Das ist ein Irrtum! Etwa siebentausend verschiedene Tierarten leben in Buchenwäldern. Allerdings gehören fünftausend von ihnen in das Riesenreich der Insekten, von der Gallmücke bis zur Schlupfwespe, von Schmetterlingen bis zu einer Fülle von Käfer- und Fliegenarten. Die Anzahl der Wirbeltiere nimmt sich dagegen mit etwa einhundert Arten recht bescheiden aus. Der »Rest« von immer noch zweitausend anderen Tierarten sind die Einzeller in der Bodenschicht, sind Spinnen und Weichtiere und Würmer. Alle aber stehen sie in vielfach verflochtenen Beziehungen zueinander und zu den Riesenpflanzen über ihnen, den Buchen. Die großen Bäume liefern und bieten alles, was die Kleineren zum Leben brauchen - Nahrung, Wohnung, Schutz, ein ausgeglichenes Kleinklima und mit den jährlich fallenden Blättern zugleich den Grundstoff für die Humusbildung zur Erneuerung des Waldbodens.