Tokaier oder Tokajer? Phantasie und Realismus, eine Nähmaschine im Ruhestand und Anschläge auf die Seele – Sechs E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 14.12. 2018) Diesmal, beim dritten vorweihnachtlichen Newsletter kann es sich der Zusammensteller ein bisschen leicht machen und auf das Zitat eines der Autoren zurückgreifen, dessen Buch der erste der insgesamt sechs Deals der Woche ist, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 14.12.18 – Freitag, 21.12.18) zum Sonderpreis zu haben sind. „Obwohl Literatur Personen und Charaktere erfinden kann – unbeabsichtigt haben sie irgendwie und irgendwann leibhaftige Vorbilder“, erklärt Hans-Ulrich Lüdemann zu seinem Buch „Der weiße Stuhl. Zweiter Versuch einer Rehabilitation“ – der vierte von insgesamt sechs Deals der Woche in diesem Newsletter.
Der erste Deal ist übrigens ein echter, kräftiger Neutsch, Erik Neutsch, der mit den beiden Erzählungen „Der Hirt und Stockheim kommt“ vertreten ist.
In „Beim Wort genommen“ setzt sich Wolfgang Mieder mit Dietmar Beetz und seinen Haikus auseinander. Und der Verfasser berichtet Erfreuliches: „Es gibt offenbar noch Wunder in der Literaturwissenschaft.“
Um Anpassung oder Nicht-Anpassung, Chor- oder Sologesang geht es – zumindest im übertragenen Sinne – in der Novelle „Nachtfahrten“ von Siegfried Maaß.
Unter dem Verdacht, einen Mann umgebracht zu haben, steht der 18-jährige Jörg Paulsen in dem spannenden Krimi „Drei Flaschen Tokaier“ von Klaus Möckel, welcher auch rückblickende Einblicke in die damalige DDR-Gesellschaft erlaubt. Im Übrigen ist „Drei Flaschen Tokaier“, das noch bis zum Ende dieses Monats und günstiger als sonst gekauft werden kann, gerade in einer russische Ausgabe in Russland erschienen.
Außerdem lockt auch dieser Newsletter mal wieder mit einem Angebot zum Supersonderpreis von lediglich 99 Cents. Mehr dazu am Ende dieses Deal-Schleppers und gleich zurück oder auch vorwärts zum ersten, ziemlich schwergewichtigen der heutigen Ausgabe.
Erstmals 1998 erschienen im SPOTTLESS-Verlag die zwei Erzählungen „Der Hirt und Stockheim kommt“ von Erik Neutsch: Die Geschichte: „Stockheim kommt“ rafft die Ereignisse jenes Augenblicks zusammen, da ein ehemaliger Gutsbesitzer in „sein“ Bördedorf heimkehrt. Der Großvater, ehemals Dorfschmied, wird vom Enkel alarmiert und eilt – die Szene, da man das Gutsland ausmaß und verteilte, noch in bester Erinnerung – zur Gutshaus-Allee, wo er Stockheim dann auch begegnet ... Die das Taschenbuch einleitende Erzählung „Der Hirt“ ist älteren Datums, packend geschrieben, und skizziert mit einer atemberaubenden Geschichte die Tage in den Monaten, die die Bodenreform zur Konsequenz hatten. Von Autor Erik Neutsch erfahren wir über diese beiden seiner Texte Folgendes: „Nichts von dem, was ich bisher erzählte, ist von meinen persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen jemals so entfernt gewesen wie die Geschichte des Hirten ... Als sie dann erschien, wollten sie manche Kritiker gar nicht haben. Nach dem Zimmermann Balla war der Hirt Godefred für sie etwas sehr Ungehöriges meinerseits. Ich allerdings habe meine weltanschaulichen und künstlerischen Positionen niemals verengen wollen und sie stets so weit zu spannen versucht, daß sie alle Menschen in meinem Lande erreichen, mit denen ich lebe und für die ich schreibe. Zu ihnen gehören die Gatts genauso wie die Godefreds. Für mich persönlich war die Geschichte vom Hirten überdies der Beweis, daß meine Phantasie noch intakt ist. In der innigen Umarmung mit dem jederzeit härteren Realismus geht es ihr wie jedem Brautpaar: Sie empfindet Freude am Schöpferischen. Später freilich, 1990, müssen wohl gewisse neudeutsche Buchgeschäftler meinen damaligen Kritikern nachgekrochen sein. Wie Tausende und aber Tausende Bände Literatur, die in der DDR gedruckt worden sind, warfen sie auch den HIRTEN auf die Müllkippe, und es ist nicht zuletzt dem Pastor Martin Weskott aus Katlenberg im Hessischen zu danken, daß er auch dieses Büchlein gerettet hat. Mit der Erzählung STOCKHEIM KOMMT verhält es sich anders. Sie entstand erst in diesen Tagen, und bei ihr bedurfte es kaum noch der Phantasie. Ich brauchte nur dem härteren Realismus, ja mehr, der brutalen junkerlich-kapitalistischen Realität, wie sie jetzt allerorten unser Land überfällt, nachzugehen, um sie skizzenhaft festzuhalten. Und da ich selbst einmal als Junge von einem Gutsherrn, weil ich von seinem Feld eine Mohrrübe stahl, mit Schüssen verscheucht wurde, ist mir diese Geschichte sehr nahe, könnte mein eigenes Erlebnis sein. Und so beginnt die mit hartem Realismus erzählte Geschichte „DER HIRT“, die anhebt fast wie ein Märchen vielleicht sogar wie eine kräftige Saga, die kräftige Saga vom Hirten Godefrend:
„Es war ein Hirt, der im Dienste der Herren von Tütz nur selten aus dem einsamen Flecken in den Wäldern der Drage gekommen war, wenn aber doch, dann nicht weiter als bis Deutsch-Krone, zu den großen Viehmärkten nach der Ernte, stets im Gefolge der Generale, zunächst des Vaters und dann des Sohnes, die sich beide bei ihren Einkäufen gern auf den Rat eines Knechtes verließen, so auch auf das sichere Urteil des Hirten vom Dragenberg über den Sitz eines Euters oder die Stellung der Hinterbeine bei Kühen. Aber auch das war eine Ewigkeit her, sechs Jahre oder mehr, solange der Krieg nun währte. Der Lärm auf den Märkten, Rindergebrüll und Pferdegewieher, die Schlachtfeste mit den Fässern voll Bier und den Kübeln voll Korn, das Gereite auf den Rücken der Stiere, alle fröhlichen Dinge waren fast schon vergessen. Polen und Deutsche schlugen sich gegenseitig die Köpfe ein, der General Sohn kommandierte irgendwo ein paar Divisionen, und seit Tagen, hieß es, standen die Russen bereits bei Schneidemühl. An der Drage hörte man die Kanonen donnern.
Der Hirt war alt. Und es schien, als habe er sein Leben schon zu Ende gebracht. Sein Gesicht war mit Runzeln bedeckt, stellenweise sogar, um die klobige Nase, in Verlängerung der Mundwinkel und auf der Stirn, wie ein Acker von tiefen Furchen zerpflügt. Erdig braun war die Haut, verbrannt von der Sonne, gepeitscht vom Wind? denn es kam vor, daß er monatelang auf den Weiden lebte, unter freiem Himmel schlief, nur ein Laubdach oder ein Zelt über sich, drei Worte genug sein ließ, wenn die Männer kamen, die Milch zu holen, allein war mit den Pflanzen, den Tieren, den Sternen, und sich erst wie der Hamster zum Überwintern in seine Hütte zurückzog, wenn wie jetzt Schnee über Wiesen und Felder trieb. Dann tat er seinen Dienst im Stall, mistete täglich die Boxen aus, traf Vorsorge gegen Fäulnis und stritt sich mit den Schweizern um die Zufuhr von Frischluft. Aber die Bräune seines Gesichts nahm auch im Stall nicht ab. Der Winter schnitt Runzeln hinzu. Die Gerbung der Haut dauerte, bis sie wieder gegerbt wurde. Seine Haut glich seit langem der Erde, und seine Augen hatten die Farbe des Himmels, der grau war und blau. Mit diesen Augen überschaute er schon sein Dasein. Und in Gott und in Titz würde er sie für immer, wenn die Reihe an ihn käme, schließen.
Doch der Inspektor trat in die Hütte. „Goldfeder“, sagte er, „nun wird es Zeit auch für dich, den Dragoner zu verlassen.“ Er nahm dazu einen tiefen Schluck aus der Flasche, rieb mit Handballen und Daumen über ihren Rand und reichte sie dem Hirten. „Vielleicht sehen wir uns wieder, prost, wenn nicht hier, dann da oben...“ Er wies mit einer Kopfbewegung zur niedrigen Decke, in die Richtung, wo vermutlich das Himmelreich lag.
Der Hirt folgte der Bewegung des Kopfes, trank und dachte, dass es nun wahrhaftig ein Ende nahm mit der Herrschaft auf Titz. Denn noch nie hatte der Inspektor mit dem Gesinde aus einer Flasche getrunken, abwechselnd Schluck um Schluck, nur ein flüchtiges Säubern mit dem Daumen dazwischen, doch mit dem Atem von einem zum andern, von Mensch zu Mensch sozusagen. Er hatte nach Gläsern gefragt, als er gekommen war. Der Hirt saß auf der Bank am Ofen und las in der Bibel. Er stand auf und zuckte mit den Schultern. Er brauchte keine Gläser, auf der Weide nicht und also auch nicht in der Hütte. Ihm genügte die Feldflasche, die hohle Hand zur Not für alles, was es zu trinken gab. Wasser und Tee und Milch und manchmal auch Branntwein. Und er sagte: „Hier bin ich geboren, hier will ich sterben. Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“
Sie tranken und schwiegen. Der alte Hirt nahm seinen Blick von der verräucherten Decke, ließ ihn über die Gegenstände im Zimmer gleiten, und plötzlich, bei dem Gedanken, dass er aus Dragoner vertrieben werden könnte, war ihm, als sähe er die beiden Räume der Hütte mit anderen Augen. Das Bett an der Wand, der steinerne Ofen, ein Schrank mit Wäsche, ein Gehrock darin und ein Dutzend ungetragener Hemden, noch von Juliane gesammelt, ein Tisch und zwei Stühle und am Fenster darüber die bestickten Gardinen, nebenan eine Küche, die schon lange nicht mehr benutzt worden war. Im Herd war die Glut erloschen. Seine Mahlzeiten erhielt er im Gutshof. Hier schlief er nur. Er hatte sich einen Bettsack aus Katzenfellen genäht, gegen Rheuma und Gicht, die Krankheiten aller Hirten im Alter, auch wenn sie bei ihm noch auf sich warten ließen. Vielleicht war er noch immer nicht alt genug?
Aber vielleicht kamen sie auch nur deswegen nicht zu ihm, weil er als junger Mann schon auf den Katzenfellen gelegen und geschlafen hatte, zu jener Zeit schon, als er das breite Bett noch mit Juliane, seiner Frau, geteilt hatte. Sie war ihm gestorben. Nach dem ersten Kind, das sie auf dem Acker entbunden hatte. Während der Arbeit. Da waren die Wehen gekommen. Sie hatte sich in das Gras eines Feldrains gelegt und das Kind aus ihrem Schoß gepreßt. Eine Kätnerin half ihr, band die Nabelschnur ab, verscharrte die Nachgeburt und wickelte das Kind in Decken, und Juliane war aufgestanden und hatte weitergearbeitet. Aber danach hatte das Fieber sie befallen. Der Hirt war von der Weide geholt worden, er hatte ihr Heidekraut und schwarzen Holunder gegeben, aber die Frau war gestorben, auch das Kind, das nicht einmal mehr getauft werden konnte. Er sah in ihr Gesicht auf dem Hochzeitsbild an der Wand über dem Bett, Juliane im Brautschleier.
Der General hatte es ihnen geschenkt, denn er bestellte stets, wenn auf den Gütern geheiratet wurde, aus der Stadt einen Fotografen. Er hatte das Bild geschenkt, dazu den schweren silbernen Rahmen, und den Wein für die Feier. Doch nun war das Silber schon schwarz, das Papier vergilbt, so gelb war es wie die Kerze daneben, die nur ein einziges Mal gebrannt hatte, damals, als Juliane aufgebahrt auf dem Bett gelegen hatte, ihr totes Kind in den Armen. Es war lange her, und der Hirt wußte nicht mehr, wie lange es her war. Er lebte seitdem allein in der Hütte, ließ sie sommers verstauben, räumte sie wieder auf im Herbst und wärmte sich an ihrem Ofen im Winter. Dann saß er abends am Tisch und las in der Bibel, dem Buch, das ihn forttrug, sobald er sich gar zu einsam fühlte.
Auch jetzt verlangte es ihn, in der Bibel zu lesen, ein Gleichnis zu finden, eine Antwort darauf, was geschehen sollte, wenn der Inspektor ihn fortschickte und die Herrschaft auf Tütz zu Ende ging. Nein, er würde den Flecken niemals verlassen.“
Erstmals 2016 veröffentlichte der Sprichwort-Experte Wolfgang Mieder bei der Erfurter EDITION D.B. (die beiden Buchstaben stehen für den Arzt, Schriftsteller und Verleger Dietmar Beetz) „Beim Wort genommen. Wolfgang Mieder, University Distinguished Professor of German and Folklore” an der University of Vermont, Burlington; zahlreiche Auszeichnungen, zwei Ehrendoktor-Titel, über 100 wissenschaftliche Bücher, international führender Parömiologe (Sprichwortforscher) hat 31 Bücher mit jeweils rund 800 „Haiku und anderen Sprüchen” analysiert. Sie halten Interessierte für eine „angemessen anstößige“ Dokumentation zum Dasein hierzulande sowie global während der jüngsten dreieinhalb Jahrzehnte. Zur Einstimmung in seine Untersuchung präsentieren wir hier den sehr persönlichen „Vorspann“ des Autors:
„Es gibt offenbar noch Wunder in der Literaturwissenschaft. Für mich jedenfalls war es ein unvergessliches Ereignis, als ich vor Jahren die ersten sieben Bände Haiku und andere Sprüche von Dietmar Beetz, erschienen zwischen 2000 und 2004, in den Händen hielt, geliefert von der renommierten Sortimentsbuchhandlung Otto Harrassowitz, Wiesbaden, die mir seit Jahrzehnten deutschsprachige Literatur besorgt. Nun lagen jene Bücher vor mir in Burlington, Vermont, dem nordöstlichen U.S.-Bundesstaat, und bald bestätigte sich: Die jeweils 800 aphoristischen Texte, die jeder dieser Bände enthält, sind in der Tat etwas Einmaliges in der umfangreichen deutschsprachigen Aphoristik.
Selbstverständlich fragte ich mich, wer dieser Beetz, Dietmar, sei und musste feststellen, dass er in den gängigen Literaturlexika nicht verzeichnet ist, ja selbst in maßgeblichen Werken zum deutschen Aphorismus, so denen von Friedemann Spicker, nicht erwähnt wird. Seine Sprüchebücher enthalten nur knappe Angaben zur Bio- und Bibliografie, und erst im Internet konnte ich mehr erfahren über diesen erstaunlich produktiven Schriftsteller. Zu seinem 75. Geburtstag am 6. Dezember 2014 war in der UNZ (Unsere Neue Zeitung), Erfurt, ein Bericht - sogar mit einem Bild - erschienen, dem ich entnehmen konnte, dass es sich bei Dietmar Beetz um einen (wie er später korrigierte: seines Erachtens nicht „bedeutenden“, wohl aber beflissenen) Arzt, Schriftsteller und Verleger handelt, dessen literarische Produktion über fünfzig(de facto derzeit siebzig publizierte) Titel mit vormals hohen Auflagen und ein Halbdutzend „in Vorbereitung“ befindlicher Bücher aufweist, u.a. Kriminalromane, Kinder- und Jugendbücher, Gedichtbände, die meisten erschienen im Verlag Neues Leben (Berlin), in anderen Verlagen der DDR und seit der Jahrtausendwende in der von ihm betriebenen „Edition D.B.“.
Erstaunlich für mich, wie dieser 1939 in Neustadt am Rennsteig geborene Thüringer und bis heute praktizierende Arzt die Zeit für ein derart umfangreiches literarisches Werk hat finden können. Schaffenskraft gehört offenbar zu seinem Wesen, und das vermutlich seit schriftstellerischen Anfängen während der Studentenzeit (Studium der Medizin von 1957 bis 1963 an der Universität Leipzig und an der Medizinischen Akademie Erfurt). Examen, Promotion, später Ausbildung zum Facharzt für Dermatologie und Spezialisierung für Betriebsmedizin, vorher Arbeit als Arzt auf Fang- und Verarbeitungsschiffen der Hochseefischer und im Indien-Liniendienst sowie '73 in befreiten, noch umkämpften Gebieten der eben proklamierten Republik Guinea-Bissau, auch kurze, jeweils mit Buchlesungen verknüpfte Studienaufenthalte in Litauen, Jugoslawien, Syrien, Angola, China, Vietnam, Namibia – stets ging es Dietmar Beetz, seinen Worten nach, „auch um Einblick in Welt-Geschehnisse und in menschliche Existenzbedingungen, also um literarische Belange“. Als Märchenforscher möchte ich ergänzend die beiden von ihm publizierten Bücher „Der Schakal im Feigenbaum und andere Märchen aus Guinea- Bissau“ (1977) und „Der fliegende Löwe und andere Märchen der Nama - nach alten Quellen neu erzählt“ (1986) erwähnen.
Der Werdegang von Dietmar Beetz ist aufzeichnet in „Kaleidoskop in b. Splitter einer -biografie“ (2008) – eines der Bücher in einem, wie ich es in einem Brief vom 21. Mai 2015 nannte, „sommerlichen Weihnachtspaket“, das auch vierundzwanzig weitere „Sprüche“-Bände enthielt. Ich hatte nach langem Suchen endlich seine Adresse ausfindig gemacht und um Lieferung dieser für meine Arbeit wichtigen Bücher gebeten.
Mit folgendem Schreiben vom 27. April 2014, dem siebzigsten Geburtstag meiner lieben Frau, begann unser epistolarer Kontakt, der sich mittlerweile zu einer auf Seelenverwandtschaft beruhenden Freundschaft entwickelt hat:
Lieber Dietmar Beetz!
Nur ganz kurz für heute: ich stamme aus Leipzig (Jahrgang 1944), bin ab 1949 in Lübeck aufgewachsen und 1960 als sechzehnjähriger Jüngling allein nach Amerika gegangen (Sie sind ja auch weit in der Welt herumgekommen). Seit 1971 bin ich als Professor für Germanistik und Folkloristik an der University of Vermont im Bundesstaat Vermont tätig. Mein Hauptforschungsgebiet ist die Volksliteratur, also Märchen, Sagen, Volkslieder, Motivstudien und vor allem Sprichwörter, sprichwörtliche Redensarten ...
Meine Sprichwörterforschung hat mich natürlich auch zu geflügelten Worten, Sentenzen, Aphorismen usw. geführt, und wie Sie aus meinem angehängten „curriculum vitae“ erkennen können, habe ich etliche Bücher und Aufsätze gerade zu sprichwörtlichen Aphorismen verfaßt: über Georg Christoph Lichtenberg, Marie von Ebner-Eschenbach, Phia Rilke, Karl Kraus, Felix Renner, Werner Mitsch, Hans Leopold Davi, Gabriel Laub, André Brie, Zarko Petan, Elias Canetti, Felix Pollak, Hans-Horst Skupy, Horst Drescher (Leipzig!), Erwin Chargaff, Elazar Benyoetz und natürlich auch über Gerhard Uhlenbruck – einer meiner besten Freunde und Arzt wie Sie. Das gilt auch für Klaus D. Koch aus Rostock (vgl. mein Buch „Sprichwörtliche Aphorismen. Von Georg Christoph Lichtenberg bis Elazar Benyoetz“ [1999]). Ich könnte mir vorstellen, dass Sie die beiden kennen.
Natürlich bin ich bei meinen wissenschaftlichen Arbeiten auch auf Ihre „Haiku und andere Sprüche“ gestoßen und kann Ihnen heute berichten, dass ich folgende Bücher von Ihnen besitze, durchgearbeitet und daraus den einen oder anderen Text in meinen Studien zitiert habe: Urwaldparfüm, Subtiler Quark, Experten für Sex, 2/3-Dummheit, Humani-tätärätä, Reform-Dracula, Süßes Geheimnis.
Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie mindestens 31 Bände dieser Art veröffentlicht, und ich möchte sie ALLE (ohne die 7, die ich schon habe) auf meine Kosten bei Ihnen bestellen.
Bitte auch „Kurzschluß im Hirnkasten“ [1996, eine „Sprüche“-Auswahl] und falls „Kaleidoskop in b“ eine Art Autobiografie ist, dann dieses Buch bitte auch. Ich hoffe, dass Sie von allen oder fast allen Bänden noch Exemplare haben. Wenn dann alle Bände vorliegen, möchte ich gerne eine längere Arbeit über die Haiku und Sprüche verfassen, die von einem Sprichwort, einer Redensart oder einem Zitat ausgehen. Vielleicht sind Sie auch gewillt, etwas zu diesem Thema zu sagen – das wäre natürlich von großem Interesse! Meine Adresse finden Sie hier am Ende meiner Zeilen. Die Rechnung – auch für das teure Porto – können Sie an meine gute Schwester schicken, die Ihnen das Geld sofort überweisen wird. Für das Paket bitte einen stabilen Karton benutzen – oft kommen Pakete hier stark beschädigt an. Für heute danke ich Ihnen ganz herzlich für Ihre Mühe und Hilfe und verbleibe mit den besten Grüßen, Ihr Wolfgang Mieder
Mit großer Freude erhielt ich dann bereits am 5. Mai 2015 per E-Mail folgende Nachricht von Dietmar Beetz:
Dank, sehr geehrter Herr Professor, für Ihr Schreiben vom 27. April und für Ihr Interesse an meinen Aphorismen. Da wir morgen einen Kurzurlaub antreten werden und ich danach wieder im Beruf und am Schreibtisch voll aktiv sein möchte, habe ich kurzerhand an Ihre Adresse geschickt: jeweils ein Exemplar von meinen - Haiku-Bändchen Nr. 7 bis 31, meiner - Autobiografie „Kaleidoskop in b“ und vom - Aphorismen-Bändchen „Kurzschluß im Hirnkasten“.
Beigefügt ist auch ein – leider blattweise unsauberer –- Ausdruck des Vermächtnis-Sammelsuriums, das ich baldmöglichst abschließen möchte – die Kapitel 1-5 halbwegs satzreif, die Kapitel 6-10 samt „Nachsatz“ noch arg ergänzungs- und korrekturbedürftig. Wenn’s recht ist, teile ich Ihnen per E-Mail mit, auf welchen Seiten welchen Kapitels ich etwas zu (meinen) Aphorismen festgehalten habe; und falls Sie Zeit und Lust haben, mir wegen des einen oder anderen Zungenschlags die Leviten zu lesen, wär’ ich dankbar.
Im Übrigen habe ich u.a. vier weitere Haiku-Bändchen im Roh-Script parat [inzwischen sind es sechs!]; doch die kann ich erst für die Publikation „befummeln“, sobald der leidige „Scripte-Friedhof ‘ [das Vermächtnis-Sammelsurium] archiv-reif ist. Mit freundlichem Gruß Dietmar Beetz
Das also war der mich so beglückende Anfang unserer Korrespondenz, wobei zu betonen ist, dass Dietmar Beetz, wenn nicht in Eile wie bei diesem ersten Schreiben, längere Briefe schreibt, die sich durch außergewöhnliches Sprachvermögen und sein gesellschaftskritisches Engagement auszeichnen.
Am 27. Juni 2015 erhielt ich einen solchen ausführlichen Brief, der zu meinen „Sprachschätzen“ gehört und den ich meinen Studentinnen und Studenten vermittelt habe, um den jungen Leuten zu veranschaulichen, dass Briefe auch in der Moderne noch etwas Besonderes sein können.“
Erst 2009 ließ Siegfried Maaß im Dorise-Verlag Burg seine Novelle „Nachtfahrten“ veröffentlichen: Dieser schlanke Mann mit den kräftigen Händen hatte unvermittelt von sich zu erzählen begonnen, so dass sie bald die ganz unterschiedlichen Stationen seines Lebens zu kennen meinte. Wie sie kam auch er von drüben. Aber während sie bereits seit der Kindheit hier war; hatte er sich als Erwachsener abgesetzt, war einfach während einer Reise mit einem Urlauberschiff bei einem Landausflug in Ägypten nicht wieder an Bord gegangen. Dass sie nun einem, der dies tatsächlich gewagt hatte, unerwartet gegenüber saß, beeindruckte sie. Oft hatte sie sich selbst vor die Frage gestellt, ob sie womöglich im Osten geblieben wäre und noch heute dort sein würde, wenn die Tante sie nicht damals auf ihre Art von dort ‚entführt’ hätte. Würde sie später je den Mut dazu aufgebracht haben? Vielleicht hätte sie sich eher wie ihre Freundin Mine angepasst und gewissermaßen im Chor mitgesungen, ohne sich als Solistin hervorzutun. Hier der Anfang der Novelle:
„Der JUNGE und das MÄDCHEN
Auch damals, als er noch ein JUNGE mit straff anliegender und sorgfältig gescheitelter Tolle war und seine erste große Reise antrat, hatte er den Zug bestiegen, als es genau wie jetzt bereits zu dämmern begann und alles um ihn herum grau aussah, wie von einer dünnen Schicht Asche bedeckt. Der MANN erinnert sich, dass es dem JUNGEN damals vorgekommen war, als besäßen die Lokomotiven Augen, während sie mit grell leuchtenden Scheinwerfern ihre Lasten in den großen Bahnhof schleppten. In den Personenwagen hinter ihnen war es jedoch fast dunkel, weil an der Decke unter einer dicken Glasglocke, die mit einem Maulkorb aus Draht versehen war, jeweils nur ein trübes Gaslicht glomm. Das wusste der JUNGE, weil er manchmal mit der Mutter zu den Großeltern gefahren und erst mit dem Abendzug in die Stadt zurückgekehrt war.
Keine Gelegenheit hatte die Großmutter ausgelassen, um ihre Tochter zu überreden, die Nacht bei ihnen im Dorf zu verbringen und mit dem ersten Zug am anderen Morgen zu fahren. Mal verfiel sie ins Bitten, mal verlangte sie, auf sie zu hören, denn sie wäre sehr ängstlich, wenn ihre beiden nachts auf der Bahn wären. Man könne ja nicht wissen ... So viele schlechte Menschen würde es geben in dieser Zeit und dann Mutter und Kind so ganz ohne Schutz ... Und kein Auge könne sie zumachen ... War es so weit gekommen, wusste der JUNGE stets, was nun folgen würde. Denn niemals vergaß die Großmutter, ihre Tochter zu erinnern, dass diese hier zu Hause sei, hier hatte sie die Kindheit verbracht. Und schließlich sparte die Großmutter auch nie dieses schreckliche Wort aus, das dem JUNGEN ebenso wenig gefiel wie seiner Mutter: Ob sie sich schämen würde, vom Dorf zu kommen ...
Einmal hatte die Mutter darauf heftig geantwortet: „Vielleicht schäme ich mich auch, weil ich euch Dorfleute als Eltern habe? Meinst du das vielleicht? Dass ich in der Stadt sage, ich habe keine Eltern mehr? Nur um nicht zugeben zu müssen, dass ich zu euch aufs Dorf fahre, wenn ich am Sonntagmorgen in den Zug steige?“ So laut hatte der JUNGE seine Mutter zuvor nie gehört. Dann hatte er seine Sachen zusammensuchen müssen und gleich darauf befanden sie sich bereits auf der Dorfstraße. Kahl ragten die Linden in den Winterhimmel. Wie an einer Schnur aufgereiht, säumten sie den Straßenrand und bildeten eine exakte Linie entlang der Häuser. Gelbliches Licht schimmerte durch die Ritzen der Fensterläden, hinter denen sich die Bewohner abschirmten.
Ob sich auch in diesen Häusern die Leute stritten?, hatte der JUNGE während der von der Mutter verordneten Flucht gedacht. Die Eltern mit den Kindern? Große Kinder wie die Mutter mit den ganz Alten? Hatte die Großmutter recht? Gefiel es seiner Mutter nicht mehr in dem Dorf, wo sie selbst Kind gewesen ist? Er jedenfalls war gern dort und besonders bei den Großeltern.
Wie einen schweren Gegenstand hatte die Mutter ihn hinter sich hergezogen, obwohl er sich eigensinnig aufzustemmen versuchte. Ein Schulkamerad der Mutter hatte sie dann mit dem Lastwagen in die Stadt mitgenommen. Plötzlich hatte der Laster neben ihnen gehalten. Der Mann hatte seinen Kopf herausgesteckt und gefragt, ob sie in die Stadt wollten. Die Mutter hatte genickt, worauf der Fahrer mit dem Daumen nach hinten wies. Seine Kabine sei leider schon voll besetzt, sagte er und hob bedauernd die Schultern. Sie hatten es sich, so gut es ging, auf Säcken voller Kartoffeln bequem machen müssen. Das gefiel dem JUNGEN gut, kam ihm wie eine abenteuerliche Entschädigung für den fluchtartigen Aufbruch vor, während die Mutter bei jeder Erschütterung auf der löcherigen Landstraße stöhnte und sich den Rücken hielt. Bald hüllte sie völlige Dunkelheit ein und der JUNGE versuchte die Lichtstrahlen der Autoscheinwerfer, die blendend entgegenkamen, mit den Händen einzufangen. Waren sie dann hinter Kurven oder im Wald verschwunden, bildete er sich ein, ein geschickter Lichtfänger zu sein. Auf diese Weise vergaß er seine Wut und Enttäuschung und half schließlich seiner Mutter hinab, nachdem der Fahrer sie in der Stadt absteigen ließ.
Viel Zeit musste dann verstreichen, ehe die Mutter sich wieder zu einem Besuch bei ihren Eltern aufraffen konnte. Auch an jenem Sonntagabend blieb die Hoffnung der Großmutter, dass Tochter und Enkel die Nacht im Dorf verbringen würden, nicht unausgesprochen. Doch die Mutter beharrte erneut darauf, mit dem Abendzug heimzufahren. Der JUNGE wusste es schon im Voraus und der MANN weiß noch recht genau, was damals geschah.
Auch dieses Mal rief die Großmutter den Großvater, der darauf ins Zimmer schlurfte, die Daumen unter die Hosenträger gespannt, und sogleich nickte, denn er kannte die sich wiederholende Szene zwischen Mutter und Tochter ebenso. Darum konnte jede von ihnen sein Nicken als Zustimmung für sich gelten lassen, worin die Mutter des JUNGEN schneller und geschickter als die Großmutter war. „Siehst du, Vater stimmt mir zu!“, sagte sie und umarmte ihn und strich dankend über seine Schulter. Dazu zog der Großvater seine Daumen unter den Trägern hervor, als gehöre es sich, die Hände freizuhaben. Wie unbeweglich und unbrauchbar hingen sie nun schlaff an ihm herab. Der MANN erinnert sich nicht, jemals gesehen zu haben, dass des Großvaters Hände Rücken oder Arme der Mutter berührt hatten.
Weil sie zu arbeiten habe und eine Kundin dringend auf ihr Kleid warte, sagte die Mutter dann. „Darum muss ich mit dem Abendzug fahren. Morgen Mittag muss es fertig sein. Damit verdiene ich schließlich unseren Lebensunterhalt.“ Der JUNGE fand es merkwürdig, dass die Mutter jedes Mal die gleichen Worte als Ausrede gebrauchte und die Großmutter es nicht zu bemerken schien.
Tatsächlich nähte die Mutter zu Hause auf ihrer alten „Singer“ für Bekannte, wie sie ihre Kunden bezeichnete und brachte auf diese Art sich und den JUNGEN durch die Jahre des Hungers und der Not. Denn der Vater war aus der Gefangenschaft nicht nach Hause zurückgekehrt. Aus Angst, von den Russen als Nazi nach Sibirien verschleppt zu werden, hatte er dafür gesorgt, in die amerikanische Zone entlassen zu werden. Das wusste der JUNGE von der Mutter. Auch, dass der Vater versprochen hatte, sie beide zu sich zu holen, sobald er sich eingerichtet und etwas aufgebaut hätte. Aber weil er sein Versprechen nicht hielt und die Mutter und ihn, seinen Sohn, noch immer im Stich ließ und tat, als gäbe es beide nicht, musste die Mutter allein für sich und den JUNGEN sorgen. Das hat der MANN nie vergessen und darum nachträglich sowohl die stets eilige Abreise wie auch die Ausrede der Mutter verziehen. Oftmals stand sie aber mit untergeschlagenen Armen wartend am
Fenster, als wollte sie sich weitere „Bekannte“ heranschauen. Dann kam es vor, dass die „Singer“ unter ihrer hölzernen Haube blieb und ihr reifes Alter im Ruhestand genoss.“
Erstmals 1990 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Der weiße Stuhl. Zweiter Versuch einer Rehabilitation“ von Hans-Ulrich Lüdemann: Der Roman ist autobiografisch geprägt. Das Manuskript mit dem Arbeitstitel „Der Schizo“ war 1988 dank des Engagements meiner Lektorinnen Gisela Gnausch und Sabine Pape abgeschlossen. Cheflektor Walter Lewerenz machte den Druck von etlichen Veränderungen abhängig, die wie so oft weniger in der literarischen Qualität begründet, sondern Ausdruck einer ideologischen Einflussnahme waren. Ich ließ ausrichten, dass ich mein Leben eher in einer Schublade verschwinden lassen würde, statt jenes aus politischem Wohlverhalten zu verbiegen. 1990 konnte das Buch endlich im Verlag Neues Leben Berlin erscheinen und ist längst vergriffen. Ende Juni 1983 erwacht der Schriftsteller JOCHEN VIERCK in einem renommierten Ostberliner Krankenhaus für Querschnittgelähmte, im Volksmund bekannt als WALDHAUS. Vierck weigert sich strikt, seine Identität anzuerkennen. Stattdessen flüchtet er in das etwas jüngere Ego JÖRG VOSSLOW, Hauptfigur eines gerade abgeschlossenen Romans. Ein SFB-Kameramann, der während der Weltfestspiele 73 aus privaten Gründen beschließt, im Ostteil Berlins zu bleiben. Turbulente Episoden zwischen 1973 und 1983 reflektiert nun sein geistiger Schöpfer Jochen Vierck, der nicht wahrhaben will, dass er querschnittgelähmt ist. Während die ebenfalls behinderten Zimmergenossen und einige Pflegekräfte Viercks Wegtauchen in ein anderes ICH (sie nennen ihn SCHIZO bzw. nach seinen Initialen JOTVAU) nicht akzeptieren, bemüht sich Dr. JUERGEN VONDERHAIDEN einfallsreich den schizophrenen Schub dieses Patienten zu kompensieren. Die Frau des Schriftstellers, DAGMAR MEHRING-VIERCK ist keine Hilfe; sie weilt anlässlich eines Verwandtenbesuchs in der BRD. Ein Telegramm aus Koblenz verrät, dass sie dort bleiben wolle. Brief folgt ... War diese für den Pflegefall und Tetraplegiker Vierck nicht zu verkraftende Nachricht der auslösende Faktor seines Identitätsverlustes? Ist sein Terrassensturz ein Suizidversuch gewesen, eine Erklärung, die Viercks befreundeter MfS-Hauptmann Deihert nicht akzeptiert. Was hat es mit dem ominösen WEISSEN STUHL auf sich, der Vierck/Vosslow durch Wach- und Albträume begleitet? Vonderhaiden leiht sich in einer Bibliothek einige Bücher des seit 1977 gelähmten Schriftstellers und präsentiert sie Vierck - keine Reaktion: Vosslow habe keine Bücher geschrieben, er sei u. a. Kameramann beim DDR-Fernsehen in Adlershof gewesen und wurde wegen Renitenz am Arbeitsplatz zur Bewährung auf die Stralsunder VOLKSWERFT delegiert. Dieser Terminus regelte in der DDR oftmals den Umgang mit missliebigen Personen. Vosslow allerdings beschert diese Disziplinierung eine heftige Liebe zur viel jüngeren Kollegin Gudrun Bell, was ihm im Rahmen seiner Brigade wiederum Probleme bereitet ... Der Arzt konfrontiert Vierck auch mit dessen Hund; während das Tier vor Freude außer sich gerät, reagiert sein Besitzer abweisend - Vosslow mag keine Hunde. Auch enge Freunde und Kollegen aus den verschiedenen Medien lassen Vierck gleichgültig. Die Berichte jener Zeitgenossen entwerfen ein Bild des Schriftstellers und vermitteln anhand von originellen Begebenheiten mit Vierck einen Einblick in den oftmals kuriosen DDR-Kulturbetrieb. Diese wie auch andere Storys aus dem Leben des Schreibers Vierck/Lüdemann sind belegt ... Die Verballhornung des Namens Waldhaus in Wundhaus und 1. Leitklinik für Rehabilitation der DDR in 1. Leidklinik - entgegen anderslautender Verklärung muss sich das DDR-Gesundheitswesen in diesem konkreten Fall etliche Vorhaltungen gefallen lassen ... Mittels eines kriminalistisch angelegten Plots im WEISSEN STUHL, der Humor nicht ausspart, mögen sowohl Ost- wie auch Westdeutsche oder das am gewöhnlichen DDR-Alltag interessierte Ausland sich der mittlerweile verdrängten 80er Jahre erinnern. Obwohl Literatur Personen und Charaktere erfinden kann – unbeabsichtigt haben sie irgendwie und irgendwann leibhaftige Vorbilder, stellt Hans-Ulrich Lüdemann fest. Steigen wir ein in die Lektüre dieses ungewöhnlichen Buches „Der weiße Stuhl. Zweiter Versuch einer Rehabilitation“, das im Sommer 1983 beginnt:
„SONNTAG, DER 26. JUNI 1983
+ + + bei vorgezogenen parlamentswahlen muessen die christdemokraten italiens, wie die ersten computerhochrechnungen nach schliessung der wahllokale ergaben, stimmenverluste von sechs prozent hinnehmen, sie bleiben aber staerkste partei vor den kommunisten + + +
23 UHR 05
Im Zimmer ist es still. Höchstens, dass die Nachtruhe unterbrochen wird von einem tiefen Seufzer, der sich mitunter zu einem Stöhnen steigert, manchmal sind auch Sprachfetzen zu hören, undeutlich hervor gepresst und nichts auslösend. In diesem Raum mit den sechs ehemals weißen Betten wirft sich keiner der Patienten von einer Seite auf die andere, von unruhigem Schlaf gepeinigt oder einen erholsamen Schlummer suchend. Als Balsam nicht nur für den geschundenen Körper. Die im sogenannten WALDHAUS liegen, aus nachvollziehbaren Gründen von Patienten und deren Angehörigen laut oder im Geiste nur WUNDHAUS genannt, müssen auch mit einem schicksalhaften Anschlag auf ihre Seele fertig werden.
Der nächtliche Pfiff einer weit entfernten Lokomotive scheint ein Signal zu sein für den Mann unter dem straff gezogenen Bettzeug. Seine Augenlider zucken. Aber die Geräusche der Eisenbahn irgendwo draußen am Rande der Großstadt hätten allein nicht ausgereicht zum Wachwerden. Anderes gesellt sich hinzu. Es dauert, bis der schläfrige Mann dahinterkommt, was die ständig wechselnden Schatten an der Wand gegenüber bedeuten. Auch wenn es ihn wundert, dass sein Körper dem eigenen Willen nicht gehorcht - dieses unstete Gebilde da drüben vermag er, ohne sich aufzurichten, mit den Augen zu verfolgen.
Das heftige Atmen und Stöhnen weckt in dem Mann Erinnerungen. Sie kommen wie im Sturzflug, schießen jedoch, schwalbengleich, kaum will er Tag und Stunde mit dem Verstand greifen und festhalten, zurück in bodenlose Tiefen. Um erneut aufzutauchen und zu verschwinden. Fast dem Rhythmus gleich, in dem jene Schatten an der Wand sich bewegen. Zwei Umrisse macht der Mann aus. Hinzu kommt die Unterscheidung zwischen einer Frauenstimme und dem mal lauten und mal leisen Schnaufen eines Mannes.
Plötzlich verharren die gespenstischen Schemen an der Wand. Der Mann hört einen Seufzer, der Angst auszudrücken scheint. Und Bedauern. Mitleid auch. Dann verstummt die Frau. Die Schatten an der Wand gegenüber verschwinden. Der Mann vernimmt leises Rascheln. Fester Stoff, der über einen Körper gezogen wird. Jetzt flucht der, der mal laut und mal leise geschnauft hat. Eindringlich klingt das. Flehentlich am Ende. Die Antwort ist ein verhaltenes Weinen. Nichts sonst. Dann leichtes Klacken von Schuhen auf dem Fußboden.
Sehen kann der Mann nichts. Mit aller Gewalt versucht er, sich auf die Seite zu drehen, aber es gelingt ihm nicht. Seine Verwunderung darüber dauert nur Bruchteile von Sekunden. Er braucht sich nicht länger anzustrengen. Jetzt sieht er sie. Hastig bringt die zierliche Gestalt den Schwesternkittel in Ordnung. Dabei sich umwendend, um einen beobachtenden Blick in die Runde zu werfen.
Der Mann schließt die Augen, ehe sein Wachsein auffallen kann. Jetzt flucht der, der mal leise und mal laut geschnauft hat. Ein Zorn liegt in diesem Ausbruch, der dem Lauscher irgendwie bekannt vorkommt. Woher weiß er auf einmal, was da vorgegangen ist? Und wieso scheint er jetzt auch das hilflose Weinen der Krankenschwester deuten zu können? Was zum Teufel ist ihm selbst widerfahren, dass er hilflos wie ein Säugling in diesem Bett liegt? Gewalt hat er höchstens insoweit über seinen Körper, dass der verbundene Kopf sich drehen lässt. Zum Beispiel nach links. Dort sieht der Mann einen schmalen weißen Rücken im matten Licht einer über der Fußbodenleiste angebrachten Notbeleuchtung. Das zerbrechlich anmutende Wesen beugt sich. Der Mann sieht durch dünnen Stoff Konturen eines Slips, dessen Bund verrutscht ist.
Der Mann mit dem dicken Kopfverband schließt wieder die Augen. Niemand kann im nächtlichen Dunkel sein versonnenes Lächeln sehen. Und keiner ist da, der es womöglich gedeutet hätte. Weißer Slip - da gibt es irgendwo für ihn eine Frau, die niemals schwarz trägt. Obwohl die Männerwelt angeblich gerade diese Farbe als besonders anregend empfiehlt.
Das laute Schmatzen eines ungeschickten Kusses unterbricht die aufkommende Erinnerung des Mannes. Er hebt den Blick und sieht die kleine Gestalt, wie sie zur Zimmertür huscht. Ein leises Knarren. Dann ist es still wie vordem, als der Mann von dem Pfeifen einer Lokomotive wach zu werden begann.
„Scheiße! Gottverdammte Scheiße!“ Gleichzeitig zu diesem mühsam beherrschten Aufschrei schlägt eine Faust wieder und wieder gegen das metallene Bettgestell. „Ich
will nicht mehr! Das ist kein Leben! Scheiße!“
„Halt die Schnauze, Anton!“ Der zornige Ruf kommt aus einer Zimmerecke. Der dort seinen Schlaf bedroht fühlt, scheint trotz seiner unverblümten Äußerung gar nicht bei sich zu sein.
Der Mann öffnet seinen Mund. Er schließt ihn wieder. Wenn er jetzt etwas sagt, dann muss Anton annehmen, dass jemand Zeuge war, als er und die Krankenschwester ...
„Halt sie doch selber, Blödmann!“
Die Luft ist raus, denkt der Mann. Antons Antwort kam mehr der Ordnung halber. Aus Prinzip sozusagen. Weil er die Zurechtweisung nicht auf sich beruhen lassen kann.
Aber was habe ich damit zu schaffen? Wer hat mich in diesen Raum gebracht? Der Mann sucht sich krampfhaft zu erinnern. Was war, bevor er hier steif und starr zum Liegen kam? Ein Auto hatte ihn gebracht. Kein Krankenwagen. Nicht so groß und mit vier Türen. Irgendetwas Besonderes war da noch. Ein Zeichen! Kein rotes Kreuz - VOLKSPOLIZEI! Vielleicht war es ein Unfall? Da sind Bilder: Aus den Funkwagen
steigen kräftig gebaute Uniformierte, sie kommen auf ihn zu, sprechen ihn an. Rede und Widerrede. Eine Hand streckt sich ihm entgegen. Fordernd: Papiere! Auch er als Zeuge soll sich ausweisen. Nicht nur bei den Deutschen ist das üblich. Aber nur in deutschen Landen gibt es die Möglichkeit ...
Der Mann wirft den Kopf zur Seite. Unscharfe Bilder quälen ihn: Er stößt eine Hand weg, dreht sich um, läuft wie von Hunden gehetzt los. Durch eine gaffende Menge. Aber rufen tun andere! Ebenso fordernd wie die Hand, die ihm entgegengehalten worden war! Es ist glatt auf dem Weg. Hat es geschneit oder geregnet? Der Atem geht ihm wie ein Kolben im Zylinder. Erneut ein scharfer Ruf. Ist von Schießen die Rede im Falle einer Weigerung, endlich stehenzubleiben, um sich ordentlich auszuweisen? Wie es nicht nur bei den Deutschen üblich ist. Mit richtigen Papieren für den richtigen Mann und für den richtigen Zweck ...
Der Mann unter dem weißen Bettzeug ist erregt. Das Hin und Her seines verbundenen Kopfes bleibt die einzige Möglichkeit, jene Mischung aus Angst und körperlicher Pein zu erkennen. Plötzlich rudert der Mann mit seinen Armen. Als suche er Halt, um nicht zu fallen. Unter den geschlossenen Augenlidern zuckt es krampfhaft.
„Die VOPO ...“ Der Rest des Satzes geht unter in einem undeutlichen Gemurmel. Jetzt reißt der Mann die Augen auf. Starr blicken sie ins Dunkel. Ohne etwas wahrzunehmen im Krankenzimmer. Angst einjagende Visionen sind jetzt in ihm. Zucken über die Netzhaut. Reflexionen der Vergangenheit.
„Haut die Bullen platt wie Stullen!“, entfährt es dem nach Luft Ringenden. Sein Arm fuhrwerkt vor dem Turbankopf hin und her, als wolle er jemand oder etwas verscheuchen. „Nicht die richtigen Papiere!“, ruft der Mann halblaut und gleich danach: „Helft mir!“
Endlich scheint der Geist dem gepeinigten Körper Ruhe zu gönnen. Der Kopf des Mannes fällt abrupt in die Seitenlage. Stoßweise kommt der Atem. Jetzt hat ein
anderes Bewusstsein das Regime übernommen. Wie eine Gnade für Körper und
Seele ist dieses Wegtauchen aus dem Wachsein ...“
Erstmals 1976 brachte der Verlag Das Neue Berlin in seiner bekannten und beliebten DIE-Reihe (Delikte, Indizien, Ermittlungen) den Kriminalroman „Drei Flaschen Tokaier“ von Klaus Möckel – längst ein Klassiker der DDR-Kriminalromane, wobei DDR-Kriminalromane solche Texte bezeichnet, die in der DDR geschrieben und die gleichzeitig in der damaligen DDR spielen: Der achtzehnjährige Jörg Paulsen steht unter Verdacht, einen Mann getötet zu haben. Wegen eines Mädchens und einer Wette unter Jugendlichen ist er in ein Haus eingestiegen, um einige Flaschen Wein zu besorgen. Anscheinend wurde er dabei vom Besitzer überrascht und hat brutal zugeschlagen. Vergeblich versucht er, sich an Einzelheiten zu erinnern, die ihn entlasten könnten. Der Fall gilt fast als gelöst, doch ein überraschender Hinweis lässt alles wieder offen erscheinen. Nicht nur der Alkohol war im Spiel, die Kriminalisten, Bothe und Kielstein, stoßen auch auf ein Gespinst aus Egoismus und Heuchelei, Bestechlichkeit und Diebstahl, das sie durchdringen müssen, bevor sie schließlich zum Täter gelangen. „Drei Falschen Tokaier“ ist wie schon gesagt längst Klassiker der DDR-Krimi-Literatur, der sich auch mit Problemen der Jugend im kleineren der damaligen beiden deutschen Staaten beschäftigt. Das Möckel-Buch, das der Autor seiner Mutter gewidmet hat, „die sich in Krimis auskennt“ erreichte hohe Auflagen, wurde in verschiedenen Ausgaben – so zum Beispiel 1981 als einer der ersten ostdeutschen Krimis in der BRD 1981 bei Rowohlt publiziert - und allerdings erst 1989 vom DDR-Fernsehen in der Regie von Udo Witte für die 131. Folge seiner Polizeiruf-110-Reihe verfilmt. Die 82-Minuten-Lange Produktion „Drei Flaschen Tokajer“ wurde erstmals am 27. August 1989 auf DDR 1 ausgestrahlt und war prominent besetzt – so spielte Jörg Schüttauf den unter Mordverdacht stehenden Jörg Paulsen, Jürgen Frohriep war Oberleutnant Jürgen Hübner und Lutz Riemann war Oberleutnant Lutz Zimmermann. Im damaligen Schauspieler-Ensemble wirkten übrigens auch mehrere Schweriner mit, darunter der erst kürzlich verstorbene, einigermaßen berühmte Horst Rehberg als 1. Lagerarbeiter im Getränkekombinat und Hans-Jürgen Plust als 2. Lagerarbeiter im Getränkekombinat sowie Anke Neumann als „Weihnachtsmann“. Und damit zurück zu der literarischen Vorlage, die mit einer Übersicht der wichtigsten Person beginnt:
„Jörg Paulsen (achtzehnjährig), der wegen drei Flaschen Wein und einem Mädchen um Mitternacht in ein fremdes Haus einsteigt, dort einen Toten findet und im Verlauf der Handlung nicht nur in bitteres Grübeln kommt, sondern auch in eine mehr als beklemmende Situation;
Leutnant Kielstein (etwas weniger jung), der nicht das prägnante Gesicht eines Starkriminalisten hat, in diesem Buch zunächst in die Irre geht, aber genügend Witz und Erfahrung besitzt, um letztlich doch die richtige Spur zu finden;
Hauptmann Bothe (Kielsteins Chef), der Grünpflanzen liebt, eine gute Ehe führt und zur Lösung des Falles die von ihm zu erwartenden wichtigen Ideen beisteuert;
Paulsens Freunde (nur wenig älter oder jünger als er), die auf Namen wie Karo, Klette, Intelligenzler, Müller, Nina und Anne hören, ihre Wochenenden vor allem in Kneipen verbringen, es mit der Moral nicht ganz so genau nehmen und sich den Anschein geben, mit dem Mordfall absolut nichts zu tun zu haben;
Leo Braun (Kellner), der ein Verhältnis mit einer flotten schwarzhaarigen Serviererin hat, aber nicht immer die geradesten Touren geht, und Ludwig Zierau (besagter Toter), der im Leben etwas darstellte, ein Haus, einiges an Wertgegenständen und sehr fest gefügte Ansichten besaß, nach Paulsens Meinung aber ein ziemlich krummer Hund war.
ERSTER TEIL
1
Es ist entsetzlich, es ist Wahnsinn! Ich bin verrückt, ich bin betrunken, nein, ich war betrunken oder nicht mal das, wenigstens anfangs nicht, nur angeheitert, beduselt meinetwegen, aber nicht blau, selbst zum Schluss nicht. Müde war ich, als ich einschlief, und meinetwegen auch benebelt, das will ich zugeben; jetzt jedenfalls bin ich völlig nüchtern.
Ich muss weg von hier, auf der Stelle. Bevor jemand kommt, bevor mich jemand entdeckt; nur wenn ich unbemerkt wegkomme, hab ich noch 'ne Chance. Denn dem da ist nicht mehr zu helfen: Wie der mich anstarrt, der Blick, die offnen Augen, das Blut, das ist kein Unfall, kein Unglück, nein, dem hat jemand eins verpasst, wie verkrampft der daliegt, wie verspannt; ich hab ihn nie leiden können, den da, alles war falsch an ihm oder fast alles, schon immer, aber trotzdem, so ein Ende... Die Polizei müsste man rufen, hallo, im Haus 27 in der Erlenstraße liegt ein Toter, ja, ich kenn den Alten, besser gesagt, ich kannte ihn, ganz gut sogar — aber dann war man selber dran, dann hätten sie einen sofort beim Wickel: Bist du nicht bei dem ein- und aus gegangen, hattest du nicht damals Krach mit ihm, wie kommst du eigentlich um diese Zeit in seine Wohnung?
Ich muss die Spuren verwischen, die Fuß- und Fingerabdrücke beseitigen, in den Keller muss ich noch mal, sonst sind sie mir gleich auf den Fersen, und ich muss mich beeilen, jede Sekunde zählt.
Das Blut ist ganz trocken; ob der schon lange so daliegt, seit dem Abend schon, seit dem Augenblick, als ich... Er muss brutal niedergeschlagen worden sein, sieht aus, als hätt er sich zur Wehr setzen wollen, hat den Feuerhaken neben sich liegen, vielleicht ein Kampf, aber warum bloß, warum und wer?
Er starrt mich an mit seinen aufgerissenen Augen, so feindselig, als wär ich's selber gewesen. Ich muss mich zusammennehmen, mir dreht sich alles im Kopf, ich trau der Polizei nicht, ich trau keinem, ich muss die Spuren verwischen, dem da ist doch nicht mehr zu helfen, ich muss weg, noch ist's Zeit.
Ich schiebe die Hintertür mit dem Ellbogen zu, diesmal nehm ich den Kiesweg, da können sie lange nach Fußabdrücken suchen. Es ist alles still, so still wie gestern Abend, als ich über den Zaun stieg, auch der Wind hat sich gelegt. Keine Menschenseele und zu meinem Glück Nebel. Geregnet hat es, und sogar ganz schön, auf den Beeten stehn Pfützen.
Plötzlich friert mich, und mir ist hundeelend zumute. Ein Traum, ein verfluchter Traum, undich mittendrin. Auch wenn ich jetzt den Garten hinter mir lasse und das Haus, wenn ich mich abseits von der Straße hastig fortschleiche, unter den Büschen, zwischen den Roggenfeldern — es bleibt ein Traum mit einem wirklichen Toten. Den ich mit eignen Augen gesehen hab. Weshalb, zum Teufel, bin ich gestern bloß auf diesen lächerlich blöden Einfall gekommen! Weshalb musste ich mich auf diese hirnverbrannte Wette einlassen. Drei Flaschen Tokaier um Mitternacht aus diesem Keller. Eine einfache Sache, ein Mordsgaudi, keinerlei Risiko. Ein Weg, den ich kannte, ein Ort, der mir vertraut war, der Alte würde gar nichts merken. Das dämliche Grinsen des Intelligenzlers, der mir das nicht zutraute, Klettes stille Bewunderung, Annekathrins gespielte Gleichgültigkeit. Karo hatte dagegengehalten, Karo hielt immer dagegen, wenn jemand was auf die Beine stellen wollte: „´nen Kasten, wenn du's schaffst, aber du schaffst's nicht, du reißt bloß die Klappe auf.“
Bis dahin war alles nur Spaß gewesen, Spiel, reine Aufschneiderei. Freitagabend, die HO-Gaststätte machte Feierabend; die Schwarze an der Theke wartete nur darauf, dass man die Scheine auf den Tisch blätterte, damit sie abrechnen konnte, selbst die vier Mann am Stammtisch kriegten kein Bier mehr, der dicke Mehlhauer, dieser fanatische Skatbruder, Balzer, der in einer Tischlerei arbeitet, Passak vom Sportverein und der blonde Ingenieur, dessen Name mir entfallen ist. Der Ober, ein Pinkel mit Schnauzbart, hatte es so eilig, die Schotten dicht zu machen, dass man annehmen konnte, er würde fürs Schließen bezahlt.
Wir mussten die gastliche Stätte verlassen, aber wir wollten nicht nach Hause, bis auf Klette vielleicht, das Muttersöhnchen — wir rissen noch unsre Witze darüber, den ganzen Abend hatten wir über seine Verklemmtheit gelacht —, und bis auf Nina, Karos Freundin, die sich aber nur zierte. Deshalb beschlossen wir, zu Müller zu gehn, dem die Frau weggelaufen ist und der die Wohnung nun für sich hat. Eine Zweizimmerwohnung. Er war auch einverstanden, bloß für die Prozente sollten wir sorgen. Und da der Intelligenzler nie Geld hat und Karo den ganzen Abend schon blechen musste, war eben ich dran. War dran und hätte besser zwanzig Mark springen lassen sollen und fünf liebe Worte für die Schwarze hinter der Theke, damit sie mir 'ne Pulle Steinhäger rüberreicht oder so.
Aber nein, mir musste die hirnverbrannte Idee mit dem Alten kommen, mit seinem Keller, den schönen Flaschen, die sich da ausruhn, kein Selbstgebauter Marke Gärtnerglück, Stachelbeermansche und Apfelsaurer. Nein, nein, der Alte weiß, was schmeckt — wusste es, verdammt noch mal, mir wird ganz schlecht, wenn ich dran denke. Trotzdem, die guten Sorten waren schon immer sein Hobby, beim Wein und bei den Münzen, der legte sich Sachen hin, die ihren Wert behielten, die nicht verderben konnten, die mit den Jahren bloß besser wurden.
Gerissen war der und egoistisch, aber nach außen hin das Vorbild, der gute Staatsbürger, der untadelige Abteilungsleiter, und jetzt tot auf 'ne Art, dass sich mir der Magen umdreht, und ich drin, mittendrin in der Scheiße.
Karo ist schuld mit seiner Überheblichkeit, mit seiner Großspurigkeit, der kann leicht die Scheinchen springen lassen, dem steckt man die Trinkgelder nur so zu, hier 'n Zwanziger und da 'n Fünfziger, Autoschlosser müsste man sein, das Geschäft in der sozialistischen Gesellschaft, Autos, Autos, Autos und jedes Vierteljahr ein paar hundert Unfälle. Da springen die Moneten und zu solchen wie Karo in die Taschen, kein Wunder, dass die Miezen verrückt sind nach dem. Bei der Nina lässt mich das ja kalt, nicht viel wert, die Biene, lange Haare, runde Schenkel, aber nichts im Kopf, bloß dass nun die Anne auch noch... Doch das mit dem Tokajer hat ihr imponiert, für so was ist sie, das weiß ich vom Intelligenzler. Wenn sie auch getan hat, als interessierte sie die Wette nicht. An ihrem Blick hab ich's gesehn, richtig munter ist sie geworden.
„Drei Flaschen“, sagte ich, und sie hat aufgemerkt, „Szomoroti, ihr wisst schon, wo“, und sie hat gegrient und verbessert: „Szamorodni heißt das“ und ist unruhig auf ihrem Stuhl hin und her gerutscht. Zum Schein hat sie dann noch gemurmelt: „Ach, es ist schon spät, lasst doch den Quatsch“, aber es war klar, dass ich 'nen Punkt bei ihr hatte und dass ich mir noch drei dazu holen konnte mit den Flaschen. Und das wollt ich, und jetzt sitz ich drin, mittendrin.
Dabei ging anfangs alles ganz glatt. Wir hatten bezahlt, das meiste natürlich Karo, und noch vor denen vom Stammtisch die Kneipe verlassen. Die andern wollten erst mit raus zu Zierau, was haben von dem Spaß, dabei sein, wenn ich das Ding drehte, aber ich war dagegen. Sie waren mir zu laut, hatten zu viel getrunken, ich selber war ja schon genug in Schwung, musste mich bremsen und meine Gedanken zusammenhalten. Der letzte Steinhäger war eigentlich zu viel gewesen, ich wollte schließlich bei Nacht und Nebel in ein fremdes Haus einsteigen, in ein fremdes, obwohl ich dort aus- und eingegangen war, obwohl ich's kannte wie meine Hosentasche. Ich wollte einsteigen, heimlich und ohne den Alten zu wecken, der nach elf immer schlief, oben in seinem Kabuff, und wollte genauso unbemerkt wieder raus. Mit den drei oder vier Pullen natürlich.“
Der sechste und letzte Deal dieser Woche, der zum Supersonderpreis von nicht mal einem Euro pro E-Book zu kaufen ist die erst vor wenigen Woche bei der EDITION digital sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book erschienene zauberhafte Eigenproduktion „Wer kämmt das Haar in der Suppe? Texte für Kinder zum Lesen, Rätseln, Spielen und Zungenbrechen“ von Gabriele Berthel mit Illustrationen von Helga Kaffke: Ist das ein Buch für große Kinder? Eine Blättersammlung vom Baum der Erkenntnis? Ein Abenteuer? Ein Spaß? Was wollen uns die Schöpfer damit fragen? Vielleicht: Dürfen wir eine falsche Flagge streichen? Sind die Flöhe, die wir husten hören, krank? Brauchen Kosmonauten eine Himmelfahrtsnase? Wie lange hält Himmelarsch und Zwirn? Ein Buch fürs Leben. Zu dem man so viel ja nicht braucht: Suppe im Topf. Eine Schatztruhe. Im Kopf. Und einen Wunsch, der ein bisschen verrückt ist. Und ein Wunder, das nicht ganz geglückt ist … Pfiffige Rätsel, bizarre Wortspiele, vertrackte Zungenbrecher, bissige Sprüche, witzige Gedichte – und ein leise ironisches Märchen. Ein paar Antworten gibt es auch. Zum Glück keine erschöpfenden, denn unsere Kraft und Courage brauchen wir ja noch. Man kühlt nur sein Mütchen – und nie seinen Mut.
Hinreißende Illustrationen aus zarten, aber kraftvollen Aquarellen. Ein Feuerwerk an Farben und Bildideen. Immer direkt entlehnt aus der alltäglichen Welt. So ist beispielsweise ein Junge, der im Märchen vorkommt, in der Darstellung der Künstlerin kein herziger, anmutiger Knabe, sondern ein Lümmel mit Zahnlücke, Sommersprossen, Ohrringen und herausforderndem Blick aus wachen Augen. Diesem Bengel traut man zu, dass er Leuten, die immer gleich rot sehn, mit einem fürsorglichen Grinsen die Tomaten von den Augen nimmt. Dann können auch sie einen Blick riskieren. Und sich notfalls was denken dabei. Dieses Buch ist auch auf den zweiten Blick noch überraschend, weil es uriges, ungewöhnliches Leben zeigt in dieser gewöhnlichen Zeit: in der nirgendwo kostenlos rausspringt, was immer und überall drin ist für Geld. Haben Sie sich genau das nicht manchmal gewünscht? Hier können Sie es haben. Und hier haben Sie zunächst drei Beispiele für die tollen Texte von Gabriele Berthel vom Anfang des Buches
WAS MAN IM LEBEN ALLES MACHEN KANN
Geradeaus gehn, aber auch: um die Ecke.
Was offen liegt, sehn,
aber auch in Verstecke
kriechen – wo die Luft nicht so rein ist,
wo das Leben manchmal ganz schön gemein ist …
An einen harzigen Stamm den Rücken lehnen,
sich nach ganz wertlosen Dingen sehnen …
bösen Kläffern mutig das Maul zuhalten,
aus Hundertmarkscheinen Papierflieger falten,
sich zu ganz braven Worten
was ganz Freches denken,
auch an Nicht-Feiertagen Geschenke schenken,
einen Fußball als Mond an den Himmel schießen,
Klatschtanten in ein Schließfach schließen …
sagen, dass unreife Pflaumen zuckersüß
schmecken,
auf alle erhobenen Zeigefinger
Kasperpuppen stecken…
Dem GOLDNEN FISCH Angst machen mit
Spinnwebnetzen,
sich mit einem schneeweißen Kleid auf eine
grasgrüne Wiese setzen–
oder … oder … oder dergleichen.
Und das wird noch nicht reichen.
SCHÖNE AUSSICHTEN
Einmal werden die Sardinen ausbüxen
und frei schweben im Fesselballon,
die Sardinen mit dem Blechschaden,
die Sardinen, die es dicke haben,
sich dünne zu machen im eigenen Saft.
Einmal, wenn du wieder mit der Nase im Dreck
liegst,
wirst du dir verwundert die Augen reiben:
denn es spiegeln sich Sardinen drin,
ausgebüchste, frei schwebend im Fesselballon.
Du wirst den Leuten, die immer gleich rot sehn,
freundlich die Tomaten von den Augen nehmen –
dann können auch sie einen Blick riskieren
und sich notfalls was denken dabei.
An dem Tag, an dem die Sardinen ausbüxen
und frei schweben im Fesselballon,
wirst du in Teufels Küche kommen –
einfach so, um ein Glas Wasser zu trinken
auf diese scharfe Geschichte.
Und du wirst, einfach so, auf den Pudding hauen
und ihn nicht mehr aus den Fingern lassen –
es wird ein ganz gewöhnlicher Tag sein,
einer, an dem nirgendwo kostenlos rausspringt,
was immer und überall drin ist für Geld.
An dem Tag, an dem die Sardinen ausbüxen
und frei schweben im Fesselballon,
wirst du an alles Erdenkliche denken –
aber nicht an einen Blechschaden,
aber nicht ans Dünnemachen im eigenen Saft.
Du wirst, wie die Sardinen, die ausgebüchsten,
endlich tun, was du bisher nicht getan hast.
Einmal in der Tinte sitzen: einfach so.
Und durchhalten bis zum blauen Wunder.
WAS DU ZUM LEBEN BRAUCHST
Einen scharfen Blick.
Und vier Meter Strick.
Und ein Taschenmesser.
Und Glück.
Eine Sonnenbrille. Einen Sonnenstrahl.
Ein geräumiges Bücherregal.
Erde untern Füßen. Über dir Wolken.
Einen Popel in der Nase zum Polken.
Notfalls ein Taschentuch.
Eine vorletzte Probe. Einen letzten Versuch.
Suppe im Topf.
Eine Schatztruhe. Im Kopf.
Und einen Stern am Himmel. Nicht auf der
Kühlerhaube.
Und eine kleine weiße Friedenstaube.
Eine gute Hexe zur bösen Fee.
Neue Sprungfedern im Kanapee.
Sandburgen. Sandkuchen. Eine Sandbank.
Zucker. Für den Benzintank.
Und einen Wunsch, der ein bisschen verrückt ist.
Und ein Wunder, das nicht ganz geglückt ist.
Und ein unverkäufliches Lachen.
Einen feuerspeienden Drachen,
der einmal im Jahr eine Jungfrau frisst
(eine Jungfrau, die noch zu retten ist).
Und, na klar, du brauchst Mut
für das Bad im Drachenblut.
Und einen Freund, der dir den ganzen Zauber
glaubt.
Und dir den Schweiß abwischt. Und überhaupt.“
Na, überzeugt? Viel Spaß beim und bis demnächst. Ach ja, ist Ihnen eigentlich auch ein kleiner Unterschied zwischen Buch und TV-Film aufgefallen? Im Buchtitel sind es „Drei Flaschen Tokaier“ und der Filmtitel spricht von „Drei Flaschen Tokajer“. Und da heißt es immer „nach dem gleichnamigen Buch“ …