Helden, die auf fahrende Eisenbahnzüge aufspringen
In seinem Roman „Der Paradiesgarten“ beschreibt Karl Sewart einen Aufbruch
Der Leser fiebert mit dem Jungen mit. Denn da sitzt einer und ist ganz versunken in das Buch, das er gerade liest. Nichts anderes nimmt er mehr wahr: „Dem Jungen selbst drangen diese nahen und wirklichen Geräusche kaum noch ins Bewusstsein; wieder einmal hatten sie sich mühelos, wie von selbst, in die der fantastischen Ferne verwandelt, von der sein Buch erzählte. Wieder einmal war unversehens alles, was ihn umgab, weit hinter ihm versunken; und ohne dass er hätte sagen können, wie es eigentlich geschah, war er in die Haut des Helden und Erzählers geschlüpft ...
So wartete er in seiner Einbildung, inmitten eines bunt zusammengewürfelten Haufens anderer Tramps, in der Nähe der Stadt Ottawa auf den nächsten Fernzug der Canadian-Pazific-Line, um über Manitoba und das Felsengebirge der Rocky Mountains in den ihm noch unbekannten fernen Westen zu gelangen, nachdem er, ohne einen einzigen Cent für eine Fahrkarte ausgegeben zu haben, bereits einige Hundert Meilen kreuz und quer durch den mittleren Westen hinter sich gebracht hatte. Er hörte den von der offenen Prärie herüberwehenden Wind in den sich den Bahndamm entlangziehenden Telegrafendrähten sirren und surren, mit an die Schiene gelegtem Ohr vernahm er das rhythmische Stampfen und dumpfe Rattern des herandonnernden Trains. Er sah den im Sternenlicht schimmernden, von ungezählten stählernen Rädern glatt geschliffenen Schienenstrang sich durch das geheimnisvolle nächtliche Dunkel in die Fremde ziehen. Bis ins Innerste erfüllt von Abenteuerlust und Entdeckerdrang, den Körper bis in den letzten Muskel, die letzte Faser gespannt, war er bereit, setzte er schon an zu dem tollkühnen Sprung auf einen der heranrollenden Pullmanwagen - da drangen plötzlich ganz andere Geräusche an sein Ohr. Und ganz andere Bilder und Gestalten tauchten vor ihm auf.“ Und der Leser fiebert mit dem Jungen mit.
Da ist sie aber doch noch, die andere, die wirkliche Welt, die außerhalb des Buches. Und da ist die Mutter, die den Jungen auffordert, dass jetzt wo draußen schon der letzte Schnee geschmolzen sei, auch drinnen für Ordnung gesorgt werden müsse. Zuerst begreift der Junge gar nicht, dass er gemeint ist. Erst als die Mutter das Buch zuschlagen und ihm wegnehmen will, da kommt er in der Wirklichkeit an und beschimpft seine Mutter – voller Hass und Zorn. Und er wirft ihr vor, sie würde die Welt nicht kennen und er sei gerade dabei, auf einen fahrenden Zug aufzuspringen, um in den amerikanischen Westen zu gelangen. Wenigstens dieses Kapitel wolle er noch lesen dürfen. Doch die Mutter kennt kein Pardon: „Anstatt von amerikanischen „Helden“ zu lesen, die auf fahrende Eisenbahnzüge aufsprängen, solle er lieber wieder seine eigenen Beine gebrauchen lernen, damit sie ihm nicht noch vollends einrosteten! Ob er ihr mal sagen könne, wann er mit dem Vater zur diesjährigen Frühjahrstour aufbrechen wolle? Etwa, wenn es aufs Neue anfange zu schneien?!“
Und was passiert dann? Karl Sewart beschreibt, wie der enttäuschte Junge einen Gedanken hat, einen einzigen Gedanken noch: „Und plötzlich wusste er, dass er gehen musste. Dass er nicht länger hierbleiben konnte. Dass er nicht in diese Stube, zu diesen Menschen gehörte ..: Dass er hinaus gehörte, in die große, freie, abenteuerliche Welt ... Und er nahm sich vor, er schwor es sich, die nächste Gelegenheit wahrzunehmen, um seinen Entschluss in die Tat umzusetzen ...“
Eine perfekte Einladung zum Weiterlesen. „Er erhob sich aus dem alten, durchgesessenen Lehnstuhl, der noch von der Großmutter stammte. Er schlug das Buch zu - als ob schon in diesem Augenblick sein großer, endgültiger Aufbruch gekommen sei.“
Das erstmals 1987 beim Mitteldeutschen Verlag erschienene Buch ist ein Roman, der die Ruhe des Lesens braucht, aber der den Leser auch zur Begegnung mit der eigenen Kindheit und ihrer Unvergesslichkeit führt und damit zum Nachdenken über sich selbst.
Der inzwischen 82-jährige Autor Karl Sewart wurde 1933 in Annaberg geboren, hatte nach dem Studium der Berufspädagogik und einer Ausbildung als Kunsterzieher zunächst in Leuna und Merseburg als Lehrer gearbeitet, bevor er eine Anstellung in Großolbersdorf und Drebach bekam. Während der Merseburger Zeit kaufte sich Sewart ein Rennrad, um jedes Wochenende nach Hause in sein geliebtes Erzgebirge fahren zu können. Schon als Schüler unternahm er erste Schreibversuche und studierte von 1970 bis 1973 am Literaturinstitut in Leipzig. Seit 40 Jahren ist er freischaffender Schriftsteller und siedelt seine Bücher vorwiegend in seiner erzgebirgischen Heimat an.