Sie hatte keinen Blick für den Mann in der grauen Jacke, der zum anderen Brückengeländer gelaufen war und ihr nachstarrte. Offenbar hatte er den Sturz nicht mitbekommen, hielt das Ganze für eins ihrer verrückten, gefährlichen Manöver. Er betätigte den Auslöser der Kamera.
Vor dem Bahnhof wurde der Zug langsamer. Heike schaffte es, zum Waggonende zurückzurutschen und wieder hinunterzuklettern. Sie kehrte nicht in ihr Abteil zurück, sondern stieg in den Wagen davor; zwei junge Leute, die neben der Tür knutschten, blickten sie so fassungslos an, als käme sie geradenwegs vom Mond.
Heike zitterten die Knie, erst jetzt spürte sie den Schmerz in der Schulter und in der Hüfte. Sie schaute niemanden an, humpelte zur Tür gegenüber. Als der Zug hielt, machte sie sich davon, so schnell sie konnte.
Sie ging zum Parkplatz, wartete dort. Der Schmerz klang langsam ab und ein Triumphgefühl überflutete sie. Zwar hatte sie keinerlei Zweifel gehegt, die Kletterei aufs Dach zu schaffen, aber nach diesem Sturz gab sie sich zu, dass es hätte schief gehen können. Ihr war minutenlang ganz schön mulmig gewesen.
Kurz darauf rauschte Enderlein in seinem schnittigen Ford heran. "Du bist wohlauf, mir fällt ein Stein vom Herzen", sagte er, ohne zu ahnen, dass er wirklich allen Grund zum Aufatmen hatte. "Klasse warst du schon, das kann man nicht bestreiten. Anscheinend hab ich mehr gezittert als du. Trotzdem, mach das nicht noch mal. Irgendwann fegt's dich runter."
"Haben Sie alles fotografiert?", fragte Heike.
"Ja, ja. Sobald die Bilder fertig sind, kriegst du sie zu sehn. Und natürlich einige Abzüge zum Herzeigen."
Heike hätte sie am liebsten gleich gehabt, für die Clique und für Tommi. Aber sie erwiderte: "Vorläufig kein Wort zu den andern, das war abgemacht."
"Natürlich. Ganz wie das Fräulein es wünscht."
Er zückte die Brieftasche, zog drei Hunderter heraus. "Hier, dein Lohn. Hast ihn ehrlich verdient."
Heike hielt die drei knisternden Scheine mit dem schönen Antlitz Clara Schumanns auf der einen, dem aufgeklappten Flügel auf der anderen Seite einen Augenblick lang in der Hand. In einem Film kürzlich hatte sie gesehen, wie ein Ganove, oder war's einfach ein kleiner armseliger Schlucker gewesen, einen solchen Schein ehrfürchtig küsste. Das würde noch fehlen, dachte sie und steckte das Geld schnell weg.
Sie rannte nach Hause. Der Vater saß in der Küche und studierte die Anzeigenseite der Zeitung. Er suchte weniger nach einem neuen Job als nach irgendwelchen vielversprechenden Annoncen. Kürzlich war er zu einer Adresse gefahren, wo man angeblich bis zu 4000 Mark im Monat verdienen konnte, wenn man eine bestimmte Reklame ans eigene Auto pinselte und damit herumkurvte. Hunderte waren gekommen, doch nur mit fünf Leuten schloss die Firma einen Vertrag. Ob er wirklich so günstig war, hatte der Vater nicht erfahren. Er war viel zu spät erschienen.
Heike wechselte ein paar flüchtige Worte mit ihm und lief in ihr Zimmer. Eine Wohnung in einem Hochbau, zweieinhalb Räume, eine winzige Küche, das Bad fensterlos. Aber der kleine, schmale Raum mit Liege, Schrank, Bücherregal, Tisch und Stuhl gehörte ihr. Das war schon was. Tommi zum Beispiel musste sein Zimmer mit dem jüngeren Bruder teilen. Heike holte den Recorder aus dem oberen Schrankfach und packte die drei Scheine zu dem schon gesicherten Hunderter. Im Grunde verachtete sie die Jagd nach der Knete, kam selbst mit wenig Geld aus. Aber in diesem Fall war es etwas anderes. Wenn sie an Holland dachte, an Tommi, den Onkel und die Tanzschule, begann ihr Herz echt zu springen. Ein Gefühl wie vorhin, als sie auf dem Dach der S-Bahn dahinraste.